Wach und nüchtern bleiben: Das ist die wichtigste Regel, an die sich Regierungschefs bei zermürbenden Verhandlungen in Brüssel halten müssen. David Cameron hat Sonderregelungen für London im Auge.

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So oft wie am Freitag wurde ein Frühstück bei einem EU-Gipfel noch nie verschoben. Die Regierungschefs sollten jetzt ruhig in ihre Hotels zurückkehren und den verdienten Schlaf genießen. Aber jede und jeder müsse darauf vorbereitet sein, dass er jederzeit "einberufen" werde, wenn er bei Verhandlungen gebraucht werde.

Mit dieser Botschaft entließ der Ständige Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, in den frühen Morgenstunden des Freitags seine 28 Kollegen nach einer harten Debatte über die Flüchtlingskrise. Um elf Uhr jedoch müssten alle da sein: "Da gibt es ein britisches Frühstück."

Weil sich der Streit um die Flüchtlingskrise viel länger als geplant hingezogen hatte, war Tusks Szenario für eine Lösung im anderen – für manche noch viel wichtigeren – Disput dieses Spitzentreffens etwas aus dem Ruder gelaufen: ein Kompromiss mit Großbritannien und dessen Forderungen nach EU-Reformen zu einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und der Effizienz der Gemeinschaft; und vor allem bei einigen Sonderregelungen für die Briten bei Sozialleistungen an die im Königreich lebenden und arbeitenden EU-Ausländer.

Premierminister David Cameron hatte sich am ersten Gipfeltag zurückgehalten, sparte die Kräfte für einen 24 Stunden dauernden Nervenkrieg, versuchte, sich als Partner zu zeigen, der legitime Interessen seiner Bürger verteidige. Er sei "bereit zu einem fairen Deal", sagte er in einer Sitzungspause, "aber nicht um jeden Preis". Während die anderen Regierungschefs schliefen, saßen er, Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker bis in die Morgenstunden zusammen.

Als die EU-Spitzen zum angekündigten Frühstück eintrudelten und der Luxemburger Xavier Bettel noch vermutete, dass es bis "zum späteren Nachmittag" eine Einigung geben könnte, kam von Verhandlungsführer Tusk die erste Verschiebung: Das Breakfast sei nun ein Bruch um 12.30 Uhr.

Als es 12.30 Uhr war, folgte die nächste Ankündigung. Nun sei ein Lunch geplant, um 13.30 gehe es in einer Plenarsitzung weiter, dann kämen alle bisher ausgehandelten Deals auf den Tisch und allen gleichzeitig zur Ansicht.

Dann hieß es, nicht 13.30, sondern 14.30 Uhr. Und so weiter. Schließlich gab Tusk bekannt, das ursprüngliche englische Frühstück starte um 16.00 Uhr. Nach dessen Absage hieß es schließlich: "Sitzung verschoben, ohne Zeitangabe." Derartige Manöver gehören bei allen EU-Vertragsverhandlungen zum Standardrepertoire. Am Nachmittag kam große Nervosität auf, die Einigung zur Verhinderung des "Brexit" könnte überhaupt scheitern, weil der griechische Premierminister Alexis Tsipras – inzwischen vom Flüchtlingsstreit angespornt – mit einem Veto drohe: Sollten die EU-Chefs sich nicht darauf verpflichten, auf jede Schließung der Grenzen zu Griechenland zu verzichten, im Rahmen der Schengenregeln, dann werde er einer Einigung mit Cameron nicht zustimmen.

Er befürchte, dass Athen nach den Maßnahmen in Österreich und Slowenien auf seinen Flüchtlingen "sitzen bleibe". Österreichs Kanzler Faymann sagte, er werde die Obergrenzen für Asylwerber nicht zurücknehmen.

Tarnen und Täuschen

Britische Kreise streuten das Gerücht aus, dass man sich auf eine Verlängerung des Gipfels bis Sonntag einstellen müsse – zwei Tage (!) länger als geplant. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite ließ sich von so etwas nicht beeindrucken: "Jeder kriegt hier sein Drama. Am Ende werden wir uns einigen."

In dem Spiel mit Tarnen und Täuschen waren daher die meisten vorsichtig im Umgang mit Inhalten, die man – angeblich – bereits fix und fertig ausverhandelt habe. Jeder betonte vor allem, was ihm wichtig war: Österreichs Kanzler Werner Faymann wies darauf hin, dass es "keine Änderung des EU-Vertrages" geben werde.

Frankreichs Präsident François Hollande erklärte, dass er eine Benachteiligung des Finanzplatzes Paris gegenüber London "keinesfalls akzeptieren" werde: "Kein Veto für die Briten beim Euro!"

So ging das dahin, bis Präsident Tusk zum Abendessen rief und mit Juncker ein "Final Paper" vorlegte. Sie hatten mit Cameron im Stillen offenbar gut gearbeitet. Alle Regierungschefs stimmten zu. Es gab den Deal. Das Drama ist vorbei, twitterte Grybauskaite. (Thomas Mayer aus Brüssel, 129.2.2016)