Der berühmte Blick auf die New Yorker Skyline samt Empire State Building.

Foto: Annika Levels

Auf den Straßen von New York.

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Die Columbia im Sonnenschein.

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Sitzgelegenheiten auf dem Times Square.

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Gigantische Blumentöpfe und ihre Wirkung.

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Frühstück in Brooklyn mit Auster.

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Auch der Meatpacking District befindet sich im Wandel.

Foto: Annika Levels

Das Abendessen – wenn man es denn so nennen darf – war bereits abgeräumt. Die Crew würde in Kürze das Licht löschen, um bei der Landung in ein paar Stunden wenigstens den Eindruck einer Nachtruhe zu hinterlassen, und tief unter uns befanden sich vielleicht ein paar Zipfel von Island und ansonsten nur das weite Nichts des Atlantischen Ozeans. Ich lehnte den Kopf in meinen Sitz, versuchte irgendwie Beine, Rücken und die viel zu kleine Decke zu sortieren und schloss die Augen. Es war November 2010, und ich saß in einem Flugzeug von New York nach Berlin.

Möglicherweise war ich verheult, definitiv hatte ich einen Kloß im Hals. Nein, ich wollte bitte auf keinen Fall nach Hause: nicht in den grauen Berliner Winter, nicht meine Diplomarbeit schreiben und mir auch nicht einen neuen Job suchen. Ich wollte weiter nachts statt tags leben, Kaffee trinken und mein weniges Geld für Bier in Bars und Sandwiches in dem Frühstückscafé um die Ecke des schäbigen Hostels in Brooklyn ausgeben; ich wollte staunen, staunen, staunen über diese Stadt, in der alles so vertraut und doch so vieles neu und fremd war, sie verstehen oder halt auch nicht, Englisch reden und ein zweites Date mit dem Hostelrezeptionisten. Das alles schien mit jedem Kilometer Rückflug in unerträgliche Ferne zu rücken, und so tat jeder dieser Kilometer, die mich von dem einen Kontinent entfernten und dem anderen näherten, weh.

Bier, Dates und Sehnsucht

Ja, schon klar: die normale Ich-war-in-einem-höchst-magischen-Urlaub-und-Alltag-ist-halt-einfach-zum-Kotzen-Reaktion. Wer kennt das nicht. In unserer kosmopolitischen Billigflieger-Jetsetter-Welt ein alter Hut. Aus heutiger Sicht allerdings möchte ich kühn behaupten, dass ich irgendwann zwischen diesem Moment und dem heutigen Tag, da ich mich in Babyschrittmanier dem Anfang vom Ende meiner Doktorarbeit nähere, nicht nur zu einer transatlantischen Forscherin zwischen Berlin und New York wurde, sondern zu einer Akademikerin im deutschen Wissenschaftsbetrieb, und dass die Sehnsucht nach dieser Stadt, nach der Freiheit des Alleineseins, nach dem ach so Vertrauten und doch Neuen und Aufregenden, nach dem distanzierten, manchmal irritierten, aber höchst liebevollen Blick auf das Fremde, nach Happy-Hour-Bier und, ja, auch nach ersten und zweiten Dates dabei vielleicht nicht die wichtigste, aber doch eine sehr entscheidende Rolle gespielt hat.

In den folgenden Jahren würde ich noch das eine oder andere Mal melancholisch über dem Atlantik daherfliegen, und weder On-Board-Dosenbier noch die Aussicht auf die baldige Rückkehr nach New York oder manchmal auch die Heimkehr nach Berlin konnten mich in diesen Momenten über den Verlust des jeweils anderen Lebens hinwegtrösten.

Urbane Forschung

Die Fakten: Ich habe an der Technischen Universität Berlin Landschaftsplanung mit Schwerpunkt städtische Freiraumplanung und -gestaltung studiert. Und während die meisten meiner Studienkollegen ihre Passion im Zeichnen, Entwerfen und Bauen sahen, interessierte ich mich in erster Linie für urbanistische Zusammenhänge und Transformationen: Gestaltung und Umnutzung von Industrie- und Bahnbrachen, Zwischennutzung, internationale Stadtentwicklungsgeschichte und -theorie, soziokulturelle Perspektiven auf das Zusammenleben in der Stadt sowie vor allem Veränderungsprozesse im und um den öffentlichen Stadtraum weckten stets meine Neugier.

In New York konnte ich 2010 beobachten, dass sich der öffentliche Straßenraum verändert hatte: Bei meinem ersten Besuch auf dem Times Square stand ich nicht in dem vielgesehenen Verkehrschaos, sondern höchstselbst und auf meinen eigenen zwei Beinen mitten auf der Straße, umgeben von tausenden Menschen sowie Tischen, Stühlen und überdimensionalen Topfpflanzen, die den Broadway zwischen 42. und 47. Straße in eine Fußgängerzone verwandelt hatten. Wie kam diese Veränderung zustande? Und warum? Und welche Auswirkungen hatte sie auf den Stadtraum? Die Stadtpolitik? Nachdem ich meine Rückreise-Depression überwunden hatte, schrieb ich über das Wie dieser Transformation meine Diplomarbeit und schreibe bis heute über die dazu notwendigen politischen Prozesse in vergleichender Perspektive mit Berlin meine Doktorarbeit.

Nachhaltiger Verkehr

In Städten der ganzen Welt hat das Paradigma des nachhaltigen Verkehrs innerstädtische Straßenräume verändert, Fahrrad- und Fußgängerverkehr in seiner Bedeutung hervorgehoben und stadtpolitische Prozesse transformiert, und während die Idee global gesehen ähnlicher nicht sein könnte, sind die lokalen Akteurs- und Entscheidungsprozesse dennoch unterschiedlich und prägend für die jeweilige Stadt.

Um dem Ganzen auf den Grund zu gehen, führte ich in New York, und natürlich auch in Berlin, Interviews mit Repräsentanten der Stadt- und Verkehrsverwaltung, kartierte Fahrradwege und gebaute Projekte, verbrachte Tage auf Recherche in der New York Public Library und der Bibliothek der Columbia-Universität, die nicht nur mit der Tatsache beeindruckte, dass sie Scanner besitzt, die nicht nur Bild-, sondern auch Text-PDFs produzieren können. So lernte ich diese Stadt aus einer Perspektive kennen, die langsam, aber sicher Forschung und Gefühl, das Wissen über die Stadt und die Liebe zu ihr miteinander verwob.

Home is where the bar is

Immer, wenn ich nach Berlin zurückflog, flog etwas von dieser Stadt mit. Nicht nur meine eigene Sehnsucht wurde zu einem stetigen Begleiter, sondern auch und vor allem die Daten meiner Feldforschung, die in der Ferne ausgewertet werden wollten. Mein Herz und mein Kopf blieben tief in New York verankert, während die Stadt – so könnte man meinen – mich vergaß. Doch als ich das letzte Mal vor gut eineinhalb Jahren in New York war und mich nach sechs Monaten Abwesenheit an den Tresen des "Thirsty Scholar" – meiner Lieblingskneipe im East Village, und das nicht nur wegen des Namens – setzte und ein Bier bestellte, begrüßte mich der Barkeeper mit strahlendem Gesicht und fragte: "Where have you been?" Ich fiel vor Staunen fast von meinem Barhocker. In einer Acht-Millionen-Einwohner-Stadt, über 6.000 Kilometer von meinem Wohnort entfernt, erinnerte man sich an mich – ich war zu Hause. (Annika Levels, 24.2.2016)