Linz – Auf den ersten Blick offenbart sich dem Besucher das Bild einer durchschnittlichen Studenten-WG: der Wohnraum überschaubar mit kleinen Zimmern, eine Gemeinschaftsküche als Kommunikations- und Lebensmittelpunkt. Die Wände mit deutlichem Überbehang: Fotos, Putzplan, Einkaufslisten, eine große Pinnwand, augenscheinlich mit Erinnerungsnotizen der letzten zehn Jahre.
Und doch ist das Leben in der WG "Ohana" von SOS Menschenrechte alles andere als alltäglich. In der einzigen Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Mädchen in Oberösterreich wohnen aktuell sechs Mädchen und zwei Burschen aus Syrien, Afghanistan und Somalia zusammen.
Wunden der Flucht
Negin serviert Kaffee und frischgebackenen Kuchen. Die 14-Jährige kommt aus Afghanistan und lebt seit gut einem halben Jahr in der Wohngemeinschaft in der Linzer Rudolfstraße. Äußerlich unterscheidet sich Negin kaum von anderen Mädchen in ihrem Alter: die Haare gestylt, den Schminkstift stets griffbereit und die Kleidung sowieso superlässig. Doch hinter der Fassade jugendlicher Unbekümmertheit verbirgt ein schwer fassbares Schicksal. Krieg, Flucht und vor allem der Verlust der Familie haben tiefe Wunden hinterlassen. Reden will Negin darüber nicht.
"Insbesondere bei Mädchen dauert es sehr lang, bis sie sich öffnen und über das Erlebte reden können. Sie haben oft auf ihrer Fluchtroute ganz besonders schlimme Dinge – Gewalt, Vergewaltigung, Zwangsprostitution – erlebt", erzählt die Geschäftsführerin von SOS Menschenrechte, Sarah Kotopulos, die zusammen mit WG-Leiterin Kerstin Dötzl die Einrichtung organisiert. "Wir machen daher keinen Druck. Es soll kein Verhör sein, die Jugendlichen sollen zuerst einmal ankommen und ein Gefühl von Sicherheit wiedererlangen."
Mehr Selbstwert
Vor allem gehe es darum, den Selbstwert der Jugendlichen zu stärken und sie mit ihrer neuen Lebenswelt vertraut zu machen. Kotopulos: "Wir wollen den Mädchen ihre Möglichkeiten in Österreich aufzeigen: Sie können in die Schule gehen, sie können eine Ausbildung machen – sie müssen nicht heiraten, sie müssen keine Familie gründen, sie dürfen verhüten."
Die acht Jugendlichen in der WG "Ohana" gehen teils noch in die Pflichtschule, andere haben als Gastschülerinnen oder Gastschüler einen Schulplatz bekommen, holen einen Hauptschulabschluss nach und lernen Deutsch. Engagement und Neugierde sind riesig. Über das Projekt "Amigo" sind rund 90 Freiwillige zusätzlich zur Betreuung des SOS-Menschenrechte-Personals als Buddies tätig, so entstehen neue Freundschaften, Freizeitbeschäftigungen, es passieren Kennenlernen und Integration.
Ihre Zukunft sieht Negin, die gerade ihren Hauptschulabschluss nachholt, in der Technik: "Ich möchte Ingenieurin werden." Nebenbei zieht es sie aber regelmäßig an die Turntables – bei diversen Festen von SOS Menschenrechte ist Negin als DJane schon fix gebucht.
608 unbegleitete minderjährige Fremde leben aktuell in der oberösterreichischen Grundversorgung und werden großteils in kleinen Wohngruppen betreut, rund zwei Dutzend der Jugendlichen finden bei Pflegeeltern in Oberösterreich ein Zuhause, weitere rund 300 leben in Bundesquartieren in Oberösterreich. Immer noch sind aber mehr als 1.500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Traiskirchen, wo keine geeigneten Bedingungen herrschen. (Markus Rohrhofer, 22.2.2016)