Es ist noch keine drei Wochen her, da wurde am Rande des Treffens der Außen- und Verteidigungsminister der EU in Amsterdam ein düsteres Bild der Entwicklung des Flüchtlingsdramas in den kommenden Wochen und Monaten gezeichnet: "Wir werden noch schrecklichere Bilder sehen. Menschen, die auf dem Balkan ziellos umherirren, riesige Lager in Griechenland mit Flüchtlingen, die keiner aufnehmen will", sagte ein Teilnehmer voraus. Zusammengefasst: "Humanitär eine Katastrophe".

So wie die Dinge gerade laufen, könnte er nicht nur recht behalten. Es sieht sehr danach aus, als käme das alles viel rascher und heftiger in Gang, als man sich das damals noch vorgestellt hatte. Zum einen sind die Zahlen der Flüchtlinge, die von der Türkei auf einer der griechischen Inseln ankommen, für winterliche Verhältnisse und im Vergleich zum Vorjahr wieder bedrohlich gestiegen: 3.600 waren es nach Angaben der Grenzschutzbehörde Frontex allein am vergangenen Donnerstag.

Zum anderen tritt die Politik, sowohl in den Hauptstädten der Mitgliedsländer als auch in der EU-Kommission, auf der Stelle. Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs vor dem Wochenende wurde nichts Substanzielles entschieden, außer dass man sich in zwei Wochen wieder zu einem weiteren Migrationsgipfel treffen wird.

Merkel baut auf den Aktionsplan

Leider hatte wegen des Terroranschlags in Ankara auch der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu seine Reise zu einem Sondertreffen der um eine Lösung bemühten "willigen" Staaten abgesagt. Damit hängt aber die erste und einzige Hoffnung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Verminderung der Flüchtlingszahlen wieder völlig in der Luft. Sie baut ganz auf die Umsetzung des Aktionsplans EU-Türkei: Die Union zahlt Ankara drei Milliarden Euro, damit die 2,3 Millionen Syrer in der Türkei besser versorgt werden können und damit weniger über das Meer nach Europa kommen. Und die türkische Regierung kann mit einer Reihe von politischen Annäherungsschritten (Visafreiheit, Beitrittsverhandlungen) rechnen.

Aber das klappte eben bisher nicht. Merkel steht zudem innenpolitisch unter großem Druck. Sie muss in Sachen Flüchtlinge endlich "liefern", Mitte März gibt es drei sehr wichtige Landtagswahlen. Die CDU sackt in Umfragen ab, nicht zuletzt wegen der Angst vor Migranten und der immer stärker werdenden Partei Alternative für Deutschland (AfD).

Beim Gipfel zeigte sich auch noch, dass weder die Osteuropäer noch Merkels wichtigster Partner Frankreich bereit sind, Deutschland bei seiner extensiven Flüchtlingspolitik zu helfen. Präsident François Hollande sagte Merkel in Brüssel sehr deutlich, dass sein Land eine ganz andere Auffassung und Geschichte der Migrationspolitik habe.

Österreichische Obergrenze pro Tag

Damit steckt Merkel und ihr Innenminister zunächst in einer Sackgasse, aus der nur schwer herauszukommen ist. Das war auch der Grund, warum sich beim Gipfel – unter williger Hilfe der EU-Kommission – aller deutscher Ärger auf Österreich und Kanzler Werner Faymann entlud. Dieser hatte nämlich mit Innenministerin Johanna Mikl-Leitner erst am Dienstag zuvor Obergrenzen (Zielgrößen im SPÖ-Speak) bei Asylwerbern eingeführt: 80 für jene, die in Österreich bleiben wollen, 3.200 für jene, die nach Deutschland weiterreisen wollen. Die Kommission erklärte das kurzum für illegal, was Berlin freute.

Da Faymann aber nicht einlenkte, sondern im Gegenteil den Beschluss offensiv verteidigte und den (in der Mehrzahl sogar verständnisvollen) Regierungschefs erklärte, dass Österreich 2016 sicher nicht noch einmal 90.000 oder mehr Asylwerber aufnehmen könne, schaltet die Regierung in Berlin einen Gang hoch. So ist einzuordnen, warum de Maizière nun erklärte, dass die Zahl von 3.200 Asylwerbern, die Wien weiterzureichen gedenkt, "viel zu hoch" sei. Merkels Mannschaft flattern die Nerven. Das schlägt sogar auf die EU-Kommission in Brüssel durch, wo einige mit Merkel vertraute Christdemokraten am Ruder sitzen.

Noch ist unklar, was de Maizière mit "Konsequenzen" meint, die er Österreich und vor allem Griechenland angedroht hat, wenn sich nichts an der Lage ändert. Aus seinen Andeutungen wird aber doch klar, dass es um die Isolierung Griechenlands im Schengenraum geht: Es würden keine Flüchtlinge mehr über den Balkan nach Norden gelassen. Österreich, das derzeit heftig gescholten wird, kann warten: Es hätte dann auch ein Problem weniger. "In zwei Wochen" sei eine Entscheidung fällig, erklärte nun der deutsche Innenminister. Genau dann findet der nächste Sondergipfel zum Thema Flüchtlinge statt. Eine Woche vor den Wahlen in Deutschland. (Thomas Mayer, 22.2.2016)