Dass es dem Langzeitprojekt Europa momentan nicht sonderlich gutgeht, ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden. Es gibt so manche nationale Politiker und Medien, die darüber nicht traurig sind. Die unverhohlene Häme darüber, dass die deutsche Bundeskanzlerin mit ihrer vernünftigen Forderung nach einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik allein dasteht, gehört zu dieser Stimmungslage.

Die Stabilität von Einrichtungen bemisst sich bekanntlich daran, wie sie sich in krisenhaften Situationen bewähren. Im Falle der gegenwärtigen Situation ist der Ausgang völlig offen. Unzweifelhaft ist die Krise der Europäischen Union gegenwärtig durch die Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten und anderen geopolitischen Gefahrenzonen ausgelöst worden, sie ist nicht aber die Ursache für die bedrohliche Lage eines historisch einmaligen transnationalen Unternehmens. Der wahre Grund liegt ganz woanders: Den Flüchtlingen aus dem Nahen Osten bläst nur deshalb ein so scharfer Wind entgegen, weil die 28 Länder des europäischen Staatenverbunds samt seiner kooptierten Partner (wie Norwegen oder die Schweiz) nicht imstande sind, gemeinsam ein keineswegs unlösbares Problem anzugehen. Die EU kann dieses Problem schlicht und einfach nicht lösen, weil die Mehrheit ihrer Mitgliedsländer das offenkundig nicht will. Sie mag gesetzlich noch so gut fundiert sein: Wenn die Staaten, aus denen sie besteht, sie nicht stärken, sondern unterminieren, wird sie handlungsunfähig, auch wenn die Union über professionelle und kompetente Repräsentanten verfügt.

Politischer Anachronismus

Der Antipode befindet sich nicht außerhalb, sondern innerhalb ihres Territoriums. Schon längst hat ein politischer Anachronismus Einzug gehalten, der in sämtlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen als überholt gilt – die kontrafaktische Sehnsucht nach dem Nationalstaat, der weder gut noch alt ist: Der irrationalen Dynamik seiner "Realpolitik" haben wir die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu verdanken. Es sind nicht nur die Politiker der Visegrád-Staaten, deren postkommunistischer Habitus unübersehbar ist, sondern solche auch andernorts, die an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich das absurde Gerücht, wonach es "uns" besser ginge, wenn wir uns von der Idee eines gemeinsamen Europa abwendeten und unser nationales Schicksal wieder in die eigenen Hände nähmen.

Im übertragenen Sinn hat man nicht nur in Warschau die Europa-Fahnen abgehängt. Das ist im Übrigen blanker Populismus, wenn Populismus meint, einen politischen Standpunkt einzunehmen, um aus bestimmten Stimmungslagen Profit zu schlagen und dabei die Schäden, die dies nach sich zieht, ungerührt in Kauf zu nehmen. Nationalismus mag noch immer, zeitweilig, ein Gemeinschaftsgefühl stiften, er hat noch niemals, entgegen seinem rhetorischen Versprechen, jemanden glücklicher oder reicher gemacht. Was er vornehmlich befriedigt, das sind negative Gefühle, Neid, Hass und Aggression, die man an den Bürokraten in Brüssel oder an den Migranten aus der Nachbarschaft auslässt, die im Burgenland wie anderswo Arbeiten verrichten, für die wir uns längst zu gut sind. Nicht zu vergessen jene Flüchtlinge, die neuerdings schlecht behandelt und mit Geldkürzungen bestraft werden; denn ohne Kürzungen, so die Logik, kämen noch mehr Menschen aus der Fremde zu uns.

Das Vereinigte Königreich, das auch im aktuellen Fall jegliche Solidarität verweigert, bildet schon seit Jahren eine politische Vorhut, wie man die europäische Integration untergräbt, um die alte Nationalstaatsherrlichkeit wie-derherzustellen.

Großbritannien hat die Rosinenpickerei perfektioniert, jenes Verhalten, möglichst viel – vom administrativen Personal in Brüssel bis zu den europäischen Fördertöpfen – für sich herauszuholen und zugleich, unter Beifall der von einem australischen Finanzmogul beherrschten englischen Mehrheitspresse, die Europäische Union unter symbolischen Dauerbeschuss zu nehmen.

Warum soll der Brexit so dramatisch für den Fortbestand der EU sein, wie das die gegenwärtig inszenierte Hysterie nahelegt? Wozu sind solche Partner gut? Zumindest lässt sich der Schaden, den Großbritannien mit seinem Verbleib anrichtet, die Schwächung Europas in Namen der "Nation", mit jenem vermeintlichen Nachteil abgleichen, der durch den Austritt entsteht. Wobei sich weniger ändern würde als behauptet: Sofern das Land weiterhin am gemeinsamen Markt partizipieren möchte, müsste es, wie die Schweiz oder Norwegen, kräftig in die gemeinsame Kasse einzahlen, ohne politisch mitreden oder Geld aus den Fördertöpfen lukrieren zu können: weniger politische Beamte in Brüssel, vielleicht eine Schwächung des amerikanischen Einflusses auf die EU und ein neues Mitglied namens Schottland. Wenn andere Länder, wie Ungarn, diesem Beispiel folgen wollen, bitte.

Die verbleibenden Länder, "Kerneuropa", können dann ihre Anstrengungen bündeln, die Integration etwa im sozialen und ökologischen Bereich zu verstärken. Primär muss sich nicht die EU verändern, sondern vor allem die Politik vieler ihrer Mitgliedsstaaten, die die Vorteile Europas entspannt hinnehmen, aber um einer vorgeblich populären nationalen Rhetorik willen den symbolischen, politischen und ökonomischen Preis für ein Projekt verweigern, um das uns viele Menschen auf der Welt beneiden. (Wolfgang Müller-Funk, 22.2.2016)