Nur vordergründig patschert und uneitel: Boris Johnson weiß ganz genau, wie er sich für die britischen Medien inszenieren muss.

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Im Abstimmungskampf um Großbritanniens Verbleib in der EU muss sich Premierminister David Cameron über die Köpfe seiner Partei hinweg ans Volk wenden. Dies verdeutlichte am Montagnachmittag die Debatte im Unterhaus über den am Freitag erzielten Deal in Brüssel. Mehrere Dutzend Abgeordnete von Camerons konservativer Partei verweigern ihrem Chef die Gefolgschaft und rufen das Volk für das Referendum am 23. Juni zum Nein auf, darunter auch führende Kabinettsmitglieder. Schon am Sonntagabend hatte der Regierungschef einen schweren Rückschlag erlitten, als sich sein schärfster parteiinterner Rivale Boris Johnson als Befürworter des Austritts ("Brexit") outete. Es sei "Zeit, ein neues Verhältnis zu Europa anzustreben", glaubt der Londoner Bürgermeister.

Die Worte des 51-Jährigen sorgten am wichtigsten internationalen Finanzzentrum Europas für Aufregung. Das Pfund sackte gegenüber wichtigen Währungen um mehr als zwei Prozent auf den tiefsten Stand seit mehr als einem Jahr ab. Dies habe mit der gestiegenen "Unsicherheit" zu tun, analysierte James Hughes vom Devisenhändler Gkfx. Die Ratingsagentur Moody’s stellte im Falle eines Brexits eine Abwertung Großbritanniens in Aussicht: Dessen ökonomische Nachteile würden die Vorteile erheblich überwiegen. "Wahrscheinlich käme es zu einer längeren Unsicherheitsphase, die sich negativ auf die Investitionen auswirken würde."

Bürgermeister Johnson gilt, neben dem Premierminister, als einer der wenigen Politiker, deren Führerschaft das Wahlvolk beeinflussen kann. Dieser Meinung war offenbar Cameron auch selbst: Bis zuletzt hatte der 49-Jährige versucht, seinen Zeitgenossen am Nobel-Internat Eton und der Elite-Uni Oxford auf seine Seite zu ziehen. Im Unterhaus drückte der Premierminister seine Enttäuschung über den Rivalen in einer Selbstbeschreibung aus: "Ich habe keine eigene Ambition, sondern handle im Interesse des Landes." Cameron will erklärtermaßen bei der nächsten Wahl 2020 kein neues Mandat anstreben. Hingegen gilt Johnsons Haltung als taktisch begründet, um sich beim überwiegend EU-feindlichen Parteivolk einzuschmeicheln.

"Sonderstellung innerhalb der EU"

Der Premierminister verteidigte die in Brüssel erreichten Zugeständnisse. Diese würden der Insel eine "Sonderstellung innerhalb der EU" und "die beste beider Welten" bescheren, sagte der Premierminister. Die Mitgliedschaft im 28er-Club mache sein Land "sicherer, stärker und wohlhabender". Hingegen tadelten Sprecher der Opposition den Konservativen dafür, dass er die Volksabstimmung überhaupt vom Zaun gebrochen habe. Labour-Chef Jeremy Corbyn sprach von einer "verpassten Gelegenheit", die EU demokratischer zu machen. Dennoch will die große Mehrheit der alten Arbeiterpartei ebenso für den EU-Verbleib kämpfen wie Liberaldemokraten, Grüne sowie schottische und walisische Nationalisten.

Hingegen sind die Torys tiefgespalten. Zählungen der BBC zufolge haben sich mittlerweile 111 konservative Parlamentsmitglieder hinter den Premierminister gestellt, 97 wollen für den Brexit stimmen. Inoffiziellen Schätzungen zufolge könnten bis zu 150 Mandatsträger dem erst im Mai als Leiter einer konservativen Alleinregierung gewählten Cameron die Gefolgschaft verweigern. Angeführt wird die Rebellengruppe neben Johnson von Justizminister Michael Gove, einem früheren engen Freund Camerons, sowie dessen Vorgänger im Parteiamt, dem Sozialminister Iain Duncan Smith. Hingegen haben sich die Ressortschefs der Ministerien für Finanzen, Wirtschaft, Äußeres, Inneres, Verteidigung und Umwelt sämtlich für den Verbleib der Insel in der EU positioniert.

Zugeständnis

Der Tory-Bürgerkrieg wird durch ein Zugeständnis möglich, den die EU-Feinde dem Premierminister schon zu Jahresbeginn abgerungen hatten. Wie beim Referendum 1975 über den Verbleib in der damaligen EWG, als die damalige Regierungspartei Labour tief zerstritten war, dürfen Kabinettsmitglieder öffentlich gegen die Linie der eigenen Regierung argumentieren. Nach dem Abstimmungskampf soll Camerons Team wie damals das Kabinett von Labour-Premier Harold Wilson wieder zu vertrauensvoller gemeinsamer Arbeit zurückkehren. Allerdings bezweifelt in London kaum jemand, daß Cameron im Fall eines Brexit-Votums zurücktreten müßte. Im Nachfolgekampf hätte dann Johnson bessere Karten als der bisher als Favorit gehandelte Finanzminister George Osborne. (Sebastian Borger aus London, 22.2.2016)