Arbeitslosigkeit ist ein Nachfrageproblem – es gibt nicht genug Jobs.

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In Österreich verbreitet sich derzeit, von rechts wie von den Parteien der sogenannten Mitte bedient, ein konservativer Neiddiskurs: Bezieher der "bedarfsorientierten Mindestsicherung" (BMS) gehe es zu gut, man müsse ihr Einkommen kürzen, etwa durch Deckelungen für die Mindestsicherung. Weiters wird nach dem Prinzip "Teile und herrsche" vorgeschlagen, unterschiedliche Regelungen für unterschiedliche Gruppen – Stichwort: Menschen, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten – einzuführen, um so verschiedene von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Und es wird gefordert, die Entscheidungsfreiheit, wofür die Mindestsicherung ausgegeben wird, aufzuheben, indem sie teilweise durch Sachbezüge ersetzt wird.

Neben dem Schüren von Ressentiments gegen verschiedene Beziehergruppen werden manchmal auch ökonomische Argumente ins Spiel geführt. Eines davon ist, dass Mindestsicherungsbezieher keinen Anreiz zu arbeiten haben. Ein anderes Argument ist, dass das System der BMS zu teuer sei. Aber ist etwas dran an diesen Argumenten?

Das sind die Fakten

Die Faktenlage zur Mindestsicherung in Österreich ist recht gut dokumentiert (die aktuellsten Daten stammen aus dem Jahr 2014), die Armutskonferenz hat einen ausgezeichneten Überblick zusammengestellt. Zuerst zu den Kosten: Die Länder haben 2014 in Summe 708 Millionen Euro für die Mindestsicherung ausgegeben. Diese Zahl inkludiert Geldleistungen und Krankenhilfe. Das sind 0,22 Prozent des österreichischen Bruttoinlandsprodukts oder 0,7 Prozent der Gesamtsozialausgaben in Österreich. Zum Vergleich: Die Kosten des Hypo-Debakels von 19 Milliarden machen das 27-Fache aus. Durch Kürzung der Mindestsicherung wird sich also nicht viel holen lassen für die öffentlichen Haushalte.

Weiters zur Großzügigkeit der Mindestsicherung: Die durchschnittliche Höhe der monatlichen BMS-Leistung je Haushalt betrug im Oktober 2014 604 Euro. Der Großteil der BMS beziehenden Haushalte bezieht diese nur als Aufstockung, weil ihre sonstigen Einkommen so niedrig sind. Und vielen Haushalten, etwa einem Drittel der Menschen, die sich an die Caritas-Sozialberatung wenden, bleiben nach Abzug der Miete weniger als vier Euro pro Tag und Person im Haushalt übrig. Üppig ist anders.

Wer sind die Bezieher? Zu 39 Prozent Frauen, zu 33 Prozent Männer und zu 27 Prozent Kinder. Der Großteil sind Alleinstehende (61 Prozent der Haushalte), gefolgt von Alleinerziehenden und Paaren mit Kindern. Für die meisten ist die Mindestsicherung eine Überbrückungshilfe – die durchschnittliche Bezugsdauer für die Mindestsicherung beträgt zwischen sechs und neun Monaten.

Wie sieht es mit der Möglichkeit, Arbeit zu finden, aus für diejenigen Bezieher, die arbeitslos sind? 2014 kamen auf jede beim AMS gemeldete offene Stelle im Schnitt 15 Arbeitssuchende. Unter solchen Umständen, wenn es nicht genügend Jobs gibt, können alle noch so intensiv nach Arbeit suchen, das wird die Zahl der Erwerbslosen nicht merklich reduzieren.

Das sagt die Forschung

Es gibt eine umfangreiche ökonomische Literatur zur Frage, wie Transferzahlungen vom Staat – wie die Mindestsicherung – optimal zu gestalten sind und wie hoch sie sein sollen. Das ökonomische Standardmodell lässt sich wie folgt zusammenfassen (siehe Ray Chetty beziehungsweise Camille Landais, Pascal Michaillat, Emmanuel Saez): Transfers an Arbeitslose und Armutsbetroffene sind wünschenswert, weil diese das Geld nötiger brauchen als andere. Transfers sind auch wünschenswert als eine Versicherung – wir zahlen ins Sozialsystem ein, um uns gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit zu versichern. Was Armutsbetroffene mit dem Geld tun, ist in erster Linie ihre Privatsache. Wofür sie ihr Geld ausgeben oder wie intensiv sie Arbeit suchen, geht sonst niemanden etwas an. Der letzte Punkt hat allerdings zwei wichtige Ausnahmen: Erstens bedeutet längere Arbeitssuche, dass der Staat mehr für Transfers ausgeben muss. Wenn Armutsbetroffene aufgrund der Mindestsicherung weniger intensiv suchen, bedeutet das, dass ein Euro an Mindestsicherung den Staat tatsächlich mehr als einen Euro kostet. Zweitens hängt Arbeitslosigkeit aber vor allem an der Nachfrageseite. Wenn manche weniger intensiv suchen, wird es für andere leichter, Arbeit zu finden, und der Staat muss an diese anderen weniger Transfers zahlen.

So weit zu den theoretischen Argumenten, aber wie sieht es in der Realität aus? Führen Leistungen wie die Mindestsicherung dazu, dass von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen weniger intensiv nach Arbeit suchen? Und wenn ja, finden dann andere Arbeitssuchende leichter einen Job? Weil sich die österreichischen Sozialversicherungsdaten besonders gut für die Untersuchung dieser Fragen eignen, wurden in letzter Zeit einige Studien zur Arbeitslosigkeit in Österreich in den internationalen Topjournalen für Ökonomie veröffentlicht (Market Externalities of Large Unemployment Insurance Extension Programs, Inference on Causal Effects in a Generalized Regression Kink Design). Diese Studien untersuchen, wie sehr Arbeitslose und Beschäftigte auf Steuern und Transfers reagieren. Diese Studien zeigen, dass Arbeitsstunden und die Höhe der bezogenen Löhne kaum von Steuern und Transfers beeinflusst sind. Allerdings ist die Dauer von Arbeitslosigkeit etwas höher, wenn Transfers es Arbeitssuchenden ermöglichen, einen passenden Job zu suchen. Andererseits gibt es, vor allem in einer Rezession, nur eine bestimmte Zahl offener Stellen, auf die sich Arbeitslose bewerben können. Deswegen ist es für andere Arbeitssuchende leichter, eine Arbeit zu finden, wenn manche etwas weniger intensiv suchen. Die Arbeitslosigkeit erhöht sich also durch die BMS nicht, und der Staat muss nicht mehr zahlen aufgrund längerer Arbeitssuche.

Soziale Sicherungsnetze ausbauen

Aus diesen Fakten und Forschungsergebnissen lässt sich schließen, dass die Mindestsicherung durchaus wesentlich großzügiger sein könnte, als sie es jetzt ist. Das würde die Armut reduzieren, die Einkommensverteilung etwas gerechter machen und nicht die Arbeitslosigkeit erhöhen. Arbeitslosigkeit ist ein Nachfrageproblem – es gibt nicht genug Jobs – und liegt nicht an mangelndem Anreiz, einen Job zu suchen. Rechten Versuchen, verschiedene Bezieher von Sozialleistungen gegeneinander auszuspielen, um damit letztlich das ganze System zu untergraben, sollte kein Raum gegeben werden. (Maximilian Kasy, 23.2.2016)