Wien – Es waren unglückliche Umstände, unter denen der Künstler Balthus 2014 mediale Aufmerksamkeit bekam: Das Essener Museum Folkwang plante, Polaroids zu zeigen, auf denen ein minderjähriges Aktmodell zu sehen ist, halbnackt, oft mit entblößter Brust. Eine im Vorfeld entbrannte Pädophiliedebatte führte zur Absage der Ausstellung.
Die "Zeit" sah – kaum überraschend – die Sittenpolizei am Werk und verteidigte die Freiheit der Kunst an sich, stellte allerdings infrage, dass man die Bilder, wiewohl man sie zeigen dürfe, auch zeigen müsse. Immerhin wirkten die Bilder wie "Dokumente einer pädophilen Gier". Und man tut sich schwer zu widersprechen, zumal es hunderte sind: Allwöchentlich über acht Jahre hin hatte der 2001 verstorbene Balthus das Mädchen Anna eingeladen, um sie in einer stets ähnlichen Pose, hingefläzt auf dem Diwan, abzulichten.
Schwer tut man sich jedoch auch, keinen kalkulierten Skandal in der Politik des Museums Folkwang zu vermuten. Tatsächlich machen die fraglichen Polaroids wohl den unbedeutendsten Teil von Balthus' Hinterlassenschaft aus: Entstanden in den 1990er-Jahren – der bereits greise Künstler lebte mit seiner japanischen Ehefrau in einem Chalet in der Schweiz –, spricht einiges dafür, dass sie vor allem als Vorstudien dienten.
Im letzten Winkerl
Dies ist auch ein Argument der Kuratoren jener großen Retrospektive, mit der das Bank-Austria-Kunstforum jetzt nicht zuletzt darauf aus ist, gegen die "oberflächliche Kenntnis" des Werks anzugehen. Eine Handvoll Polaroids des Anstoßes sind darin demonstrativ ins letzte Winkerl gerückt und nahtlos kombiniert mit Naturaufnahmen, was ihren Studiencharakter unterstreicht.
Im Zentrum stehen die Gemälde des 1908 als Balthasar Klossowski de Rola, Sohn eines deutsch-polnischen Kunsthistorikers und einer jüdischen Malerin, geborenen Künstlers: von frühesten Stilstudien über Akte und Porträts aus dem Umfeld seines Pariser Intellektuellenzirkels bis hin zu Landschaften, die im Refugium im Burgundischen entstanden. Dass sich damit der Nebel um das Geheimnis Balthus so recht lichte, wird man allerdings nicht erwarten dürfen. Was hier Stück um Stück reichhaltiger wird, ist – im besten Sinne – vor allem das Rätsel.
Für seinen Status als Mysterium sorgte der Künstler auch selbst. Hochgeschätzt von Künstlerkollegen bis hin zu Pablo Picasso, blieb er Einzelgänger, eine schillernde Figur, hier Dandy, dort Aristokrat. Auf einen Hang zur Selbststilisierung verweist ein Selbstporträt als "König der Katzen", die seinen erotischen Kosmos an vielen Stellen bewohnen und ihn mit einem anderen, heute fragwürdig gewordenen Exzentriker verbinden, nämlich Lewis Carroll, dem Autor von "Alice im Wunderland". Die Neigung zum Spiel lebte Balthus aber auch als Bühnenbildner für Antonin Artaud und Albert Camus aus.
Das Begehrte bleibt auf Distanz
In Ausstellungen wollte er den Kult um seine Person im Hintergrund sehen. Seine Bilder sollten für ihn sprechen. Und in diesen blieb er durch alle Moden und Strömungen des Jahrhunderts seinem Stil treu: einer traditionell anmutenden Malweise, geschult etwa an den Fresken Piero della Francescas; einem gemessenen Duktus, mit dem er umso irritierendere Sujets umkreiste. "Negative Idyllen" wurden Balthus' Atmosphären einmal genannt.
Immer wieder fällt der Blick nicht nur auf nackte Mädchenschenkel unter kurzen und kürzeren Röcken, sondern immer wieder erwecken Szenen mit knienden Kindern Assoziationen an Schwarze Pädagogik. In seltsam erstarrten Szenen – von "Traumautomaten" sprach Artaud einmal angesichts von Balthus' holzpuppenartigen Figuren – wird das, was brennendes Begehren erwecken könnte, ebenso wie alle Emotionalität auf Distanz gehalten.
Es ist eine spannende Frage, ob man am Ende in der Lage ist, in Balthus' Polaroids ausgerechnet sein intellektuelles Interesse an "Kindheit und Jugend an sich" zu erblicken – so ein weiteres, den Künstler entlastendes Argument der Kuratoren. Am Eindruck, dass Balthus ein komischer Kauz mit gehörigen Abgründen ist, wird jedenfalls nicht gerüttelt. (Roman Gerold, 24.2.2016)