Kurz erhöht den Druck auf deutsche Regierung.

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Wien – Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) forderte im Vorfeld der Westbalkankonferenz am Mittwoch in Wien von Berlin eine klare Ansage zum Umgang Deutschlands mit neu ankommenden Flüchtlingen. Wien wolle mit Berlin kooperieren, "daher erwarten wir, dass Deutschland sagt, ob es noch bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen und wie viele – oder ob es nicht mehr dazu bereit ist", sagte Kurz der "Bild"-Zeitung.

Noch vor wenigen Tagen habe Deutschland Griechenland offene Grenzen zugesichert und sich gegen eine Grenzschließung in Mazedonien ausgesprochen. "Österreich hatte letztes Jahr pro Kopf doppelt so viele Asylanträge wie Deutschland", sagte Kurz weiter. "Das geht kein zweites Mal."

Berlin kontert eher kühl: "Wir verfolgen keine Politik, in der für Flüchtlinge Obergrenzen vergeben werden", sagt Jörg Plate, der Sprecher von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) zum STANDARD, ohne konkret auf den Wunsch von Kurz einzugehen. Man arbeite weiter an einer "europäischen Lösung". Da dies in Wien bekannt ist, ist man in Berlin über Kurz‘ Aussagen eher irritiert.

Mit Interesse verfolgen Berliner Regierungskreise die Westbalkan-Konferenz in Wien, zu der weder Griechenland noch Deutschland eingeladen worden sind. Kritik an dieser Einladungspraxis gibt es aber nicht, es stehe allen Staaten einer Region frei, sich abzustimmen. Sobald Maßnahmen getroffen werden, die auch deutsche Interessen berühren, geht man in Berlin von einer entsprechend "engen Abstimmung" mit der deutschen Regierung aus.

Konferenz am Mittwoch

Österreich will mit seinen Obergrenzen bei den Flüchtlings- und Asylwerberzahlen einen Dominoeffekt auf der sogenannten Balkanroute erreichen. Die Innen- und Außenminister von neun Ländern (Slowenien, Kroatien, Bulgarien, Albanien, Bosnien, Kosovo, Serbien, Mazedonien und Montenegro) wurden vor diesem Hintergrund zu einer Strategietagung am Mittwoch in Wien eingeladen.

Griechenlands Regierung ist nicht eingeladen und fürchtet Entscheidungen, die einen Flüchtlingsstau zur Folge haben könnten. Bei der Konferenz handle es sich um ein "festes Format", daher sei Griechenland nicht eingeladen, erklärte das Innenministerium.

Bei der Westbalkankonferenz im vergangenen Jahr nahm EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos teil. Auch Italien war mit von der Partie, heuer nicht. Rom sieht die österreichischen Pläne zur Stilllegung der Balkanroute mit großer Skepsis, weil es eine Umleitung des Flüchtlingsstroms auf sein Staatsgebiet befürchtet.

Keine unilaterale Entscheidung

Mazedoniens Außenminister Nikola Poposki verteidigte sein Land gegen Kritik, die Grenzen für Asylwerber aus Afghanistan geschlossen zu haben. "Es gab Entscheidungen in Kroatien und Serbien, keine Afghanen mehr über die Grenze zu lassen, die nicht nachweisen können, dass sie aus Konfliktregionen kommen", sagte Poposki der "Bild". "Wir haben keine unilaterale Entscheidung gefällt, sondern auf die Entwicklung in den anderen Ländern reagiert." Deutschland habe "offensichtlich eine führende Rolle in dieser Krise" und müsse jetzt deutlich machen, was von den Transitländern prinzipiell erwartet werde, forderte er.

Veto-Drohung "unangebracht"

Kurz hatte die Kampfansage Griechenlands an die Westbalkanstaaten verurteilt. "Veto-Drohungen gegen eine Annäherung der Westbalkanstaaten an die EU oder gegen EU-Förderungen sind extrem unangebracht", sagte Kurz nach Angaben eines Sprechers Mittwochfrüh.

Serbien und Mazedonien haben nach Einführung der österreichischen Flüchtlingsobergrenze am Freitag die Durchreise von Schutzsuchenden nach Norden immer weiter beschränkt. Derzeit warten rund 4.000 Iraker und Syrer an der griechischen Grenze zu Mazedonien auf die Weiterreise. Afghanen und Schutzsuchende aus anderen Staaten dürfen gar nicht mehr einreisen. Die Regierung in Athen hatte deshalb in den Raum gestellt, den Beitrittsprozess der Staaten zur EU zu blockieren.

"Österreich ist für europäische Lösung"

Kurz verteidigte in seiner Stellungnahme das österreichische Vorgehen in der Flüchtlingskrise. "Österreich ist für eine europäische Lösung. Solange es diese nicht gibt, müssen wir nationale und regionale Maßnahmen setzen", sagte er. Es brauche einen "Systemwechsel", um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. "Bisher ist Griechenland zur Reduktion des Zustroms nicht bereit."

Kurz sagte am Mittwoch, Griechenland habe erst vor drei Wochen bei einem Treffen in Amsterdam seine geringe Bereitschaft zu einer Lösung im Sinne Österreichs gezeigt. "Leider gab es nicht nur kein Ergebnis, sondern Griechenland hat klar zum Ausdruck gebracht, dass es kein Interesse daran hat, den Zustrom zu reduzieren und dass es im Gegenteil weiter am Durchwinken festhalten will."

"Situation nicht mehr tragbar"

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat am Mittwoch vor den humanitären Folgen der Grenzpolitik der teilnehmenden Länder in Griechenland gewarnt. "Die Situation ist nicht mehr tragbar, wird sich in den kommenden Tagen aber weiter verschlimmern", so die Einsatzleiterin der NGO in Griechenland, Marie Elisabeth Ingres, in einer Aussendung.

Bereits jetzt sei die Situation "ohnehin schon katastrophal", so die Hilfsorganisation. Seit der plötzlichen Einführung neuer Beschränkungen für afghanische Flüchtlinge würden tausende Männer, Frauen und Kinder in Griechenland und den Balkanländern festsitzen und kaum Zugang zu humanitärer Hilfe haben, keine Informationen erhalten und Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sein. "Wenn Afghanen auch in Zukunft nicht weiterreisen dürfen, wird das gesamte Aufnahmesystem innerhalb von nur acht Tagen vollkommen überlastet sein. Es gibt keinen realistischen Notfallplan", so Ingres.

Eine Million Flüchtlinge

Für 2016 rechnet Fabrice Leggeri, Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex, erneut mit rund einer Million Flüchtlingen in Europa. "Es wäre ein Erfolg, wenn die Flüchtlingszahlen gegenüber 2015 stabil blieben. Wir stellen uns angesichts der Lage in Syrien auch in diesem Jahr auf rund eine Million Flüchtlinge ein", sagte Leggeri den Dortmunder "Ruhrnachrichten".

Aktuell sei es wichtig, die Flüchtlinge von der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland in die Hotspots zu bringen. "Dort kann geklärt werden, ob sie Anspruch auf Schutz haben. Leider stellen nur die wenigsten einen Asylantrag in Griechenland. "Die anderen versuchen auf eigene Faust, nach Deutschland oder Schweden weiterzureisen", sagte Leggeri.

Sollte es gelingen, die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Europa kommen, zu reduzieren, rechnet Leggeri mit alternativen Flüchtlingsrouten. "Die Erfahrung hat gezeigt, dass Zäune und Patrouillen auf See die Flüchtlinge nicht stoppen. Wir halten es für wahrscheinlich, dass wieder mehr Menschen versuchen werden, über Libyen nach Italien zu gelangen. Denkbar sind auch Routen über die Ukraine und Russland oder von Griechenland unmittelbar nach Italien", sagte Leggeri.

1.700 neue Flüchtlinge in Griechenland

In der griechischen Hafenstadt Piräus sind am Mittwochmorgen 1.700 Flüchtlinge angekommen. Damit sei die Zahl der in den vergangenen drei Tagen per Fähre eingetroffenen Menschen auf 9.000 gestiegen, teilte die Hafenverwaltung mit.

Hunderte Flüchtlinge wurden am Mittwochmorgen in einem neuen Aufnahmelager bei Diavata nahe der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki untergebracht, wie das Fernsehen zeigte. Das Lager ist zum Teil fertig und soll in den kommenden Tagen eine Kapazität für 4.000 Menschen haben. Flüchtlinge wurden auch in einem Aufnahmelager und zwei Sporthallen in Athen untergebracht.

Dennoch gab es Versuche, auf eigene Faust nach Norden zu kommen. Das griechische Fernsehen zeigte Menschen aus Afghanistan und anderen Ländern, die in Piräus und Athen nach Transportmitteln suchten, um nach Mazedonien weiterzukommen. (APA, Reuters, red, bau, 24.2.2016)