Michael Harrison vom "Talkers Magazine".

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STANDARD: Talk-Radio ist ein Phänomen, das im deutschsprachigen Raum fast gänzlich unbekannt ist. Warum ist es gerade in den USA so erfolgreich und populär?

Harrison: Talk-Radio ist in den USA ein Produkt, das durch den ersten Verfassungszusatz möglich gemacht wurde. Redefreiheit ist das Fundament, auf dem amerikanisches Talk-Radio aufgebaut ist. Wenn wir über Talk-Radio sprechen, denken viele ausschließlich an politisches Talk-Radio, aber das Spektrum ist viel größer und geht weit darüber hinaus: Beziehungstalk, Lifestyle, Promi-Klatsch und natürlich Sport-Talk-Radio, das eine der größten Arenen im Radio ist. Wenn wir also über Talk-Radio sprechen, sprechen wir über viel mehr als über Lars Larson, Rush Limbaugh oder Sean Hannity (alle drei konservative Talk-Radio-Moderatoren, Anm.).

Dennoch war politisches Talk-Radio in den vergangenen drei Jahrzehnten eine der erfolgreichsten Talk-Radio-Sparten. Es geht zurück auf die Rede- und Meinungsfreiheit: die Tatsache, dass Menschen on air ihren Standpunkt über Politik ausdrücken, den Präsidenten und Politiker auf lokaler Ebene kritisieren können, und all das auf rund 1.500 Talk-Radio-Stationen in ganz Amerika.

STANDARD: Wie genau kam es zu dieser regelrechten Explosion von Talk-Radio-Stationen?

Harrison: Das Feld wurde in den 80er-Jahren extrem populär, als die Fairnessdoktrin aufgehoben wurde. Die sah vor, dass eine Radiostation bei politischen Themen dafür sorgen musste, dass der anderen Perspektive gleich viel Zeit eingeräumt wird. Das wurde zum Problem, weil es viele Sichtweisen auf ein und dasselbe Problem gibt, und bevor Bürokraten oder Regierungsbeamte regulieren und Strafen vergeben oder Radiostationen ihre Lizenz verlieren, haben sich viele Radiostationen dazu entschlossen, lieber nicht über Politik zu sprechen. Stattdessen sprach man über Rezepte, Sex, Tratsch oder Sport.

Als die Fairnessdoktrin allerdings als nicht verfassungskonform aufgehoben wurde, öffnete das die Tür für Menschen wie Rush Limbaugh, die über eine bestimmte politische Meinung reden und reden und reden und ein Publikum unterhalten können. Vor dem Fall der Fairnessdoktrin gab es nur eine Handvoll Stationen, die durchgehend politisches Talk-Radio sendeten, und Talk-Radio-Moderatoren wurden als ein Kuriosum gesehen. Heute sind sie die größten Stars im Radio, und Talk-Radio gilt als Retter des Mittelwellenradios. Ohne Talk-Radio gäbe es in den USA vermutlich kein Mittelwellenradio mehr.

STANDARD: Welche Rolle spielen die großen Highways in den USA für die Radiomärkte und den Erfolg einzelner Moderatoren?

Harrison: Weil die USA eine so mobile Gesellschaft sind und die Menschen viel mit dem Auto fahren und man dabei nicht fernsehen kann, hat das Auto einen enormen Einfluss auf Talk-Radio. Wenn die Menschen am meisten fahren, haben die Radiostationen die meisten Zuhörer. Man nennt das auch den "AM" und "PM drive". Am Abend fällt der Radiokonsum dann stark ab.

STANDARD: Vor einigen Jahren startete mit dem Kabelkanal Fox News ein Sender, der im Fernsehen das produziert, was Talk-Radio im Äther macht. Eine Gefahr oder eine Chance?

Harrison: Beides. Es gibt auch Menschen, die beides machen – Fox News und Talk-Radio. In den frühen 90er-Jahren hatte Talk-Radio ein Monopol auf diese Art von Show. Aber seither entstanden Fox News, MSNBC, das eine liberale Haltung einnimmt, und auch CNN versucht immer öfter politische Talk-Shows im Fernsehen zu produzieren – nicht zu vergessen eine Vielzahl von Websites. Diese TV-Sender haben Talk-Radio die Exklusivität genommen. Gleichzeitig begannen sich dadurch Menschen für Talk-Radio zu interessieren, die sich vor dem Aufkommen von Fox News nicht dafür interessiert haben. Die beiden Medien spielen miteinander, sind aber gleichzeitig auch Konkurrenten.

STANDARD: Das Internet hat die US-Zeitungsindustrie enorm unter Druck gebracht, neue Player wie Netflix bringen nun auch Fernsehstationen in Bedrängnis. Ist auch das Internet ein "Disruptor" für Talk-Radio?

Harrison: Ja, das Internet ist ein "Disruptor" für alle Medien. Das Internet ist viel größer als jedes einzelnes Medium oder Genre für sich genommen. In allen Medien des 20. Jahrhunderts erzeugt das digitale Zeitalter letztlich eine Krisensituation. Das Geschäftsmodell von Radio basiert auf Radiostationen. TV basierte auf TV-Sendern. So werden diese Unternehmen auch geführt, und so werden sie auch gestört.

STANDARD: Oregon und insbesondere Portland haben den Ruf, äußerst liberal zu sein, trotzdem ist der rechte Radiomoderator Lars Larson dort sehr erfolgreich. Wie passt das zusammen?

Harrison: Weil der US-Radiomarkt stark zersplittert ist. Gerade in liberalen Gegenden sind konservative Talk-Radio-Moderatoren sehr erfolgreich, weil alle Konservativen, die in der Region wohnen, sie unterstützen, und das führt zu einer kritischen Masse, um erfolgreich zu sein. Man braucht nicht die Mehrheit der Bevölkerung einer Region, um im Radio erfolgreich zu sein. Michael Savage, ein konservative Radiomoderator, war Nummer eins in San Francisco – der liberalsten Stadt Amerikas! Warum? Die Antwort ist, weil er nicht für das Amt des Bürgermeisters kandidiert. Er würde in San Francisco nicht einmal zum Hundefänger gewählt werden, aber das hat ihn nicht daran gehindert, Nummer eins im Talk-Radio zu werden. Wäre Larson oder Savage liberal, müsste er mit allen anderen Medien in Portland konkurrieren, aber als Konservativer sticht er heraus.

STANDARD: Aber es fällt doch auf, dass konservative Talk-Radio-Moderatoren besonders gern in besonders liberalen Metropolen wie New York und San Francisco leben.

Harrison: Ja, es herrscht eine unglaublich Ignoranz und Heuchelei in der Frage, was ich predige und wie ich wirklich lebe. Das sollte man nicht zu ernst nehmen. (Stefan Binder, 28.1.2016)