Wien – Martina Burtscher versucht die Männer auf den Frühling einzustimmen – und das verpflichtend. Es gibt Alphabetisierungskurse und Deutschkurse, aber auch Kurse, in denen Regeln und Werte gelehrt werden. Da geht es um die Schulpflicht, um das Fahren ohne Fahrschein, in den letzten Tagen und Wochen aber vor allem auch um den Umgang mit Frauen. "Ich versuche die Männer auf den Frühling vorzubereiten und darauf, dass dann viele Frauen mit Miniröcken unterwegs sein werden. Das sind die Männer hier nicht gewohnt." Es geht um sexuelle Belästigung.
Sexuelle Belästigung
Im Flüchtlingsheim Vordere Zollamtsstraße leben derzeit 775 Menschen, darunter viele Familien mit Kindern, aber auch viele alleinstehende Männer. Die Ereignisse von Köln sind ein Thema. "Die Männer müssen lernen", sagt Martina Burtscher. Sie ist eine von zwei Leiterinnen dieses Flüchtlingsheims, das vom Roten Kreuz betrieben wird. Was Burtscher den Männern beizubringen versucht: dass sie Frauen mit Respekt behandeln müssen. Wie Schwestern. Und dass sexuelle Belästigung hierzulande strafbar ist.
Ängste und Erwartungen
Die Männer, die meisten von ihnen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, diskutieren ernsthaft über das Thema, stellen viele Fragen. Burtscher: "Sie machen sich viele Gedanken über Familie, Ehe und Partnerschaft. Sie haben berechtigte Ängste und falsche Erwartungen." Und sie müssen umdenken und umlernen. "Beziehungen laufen bei uns anders", sagt Burtscher. Ihre Autorität wird hier nicht infrage gestellt. Ein kleiner Fortschritt.
Bei den Schulungen im Haus versucht Burtscher, auch ein anderes Thema anzusprechen: dass die Wiener und die Österreicher nicht generell so nett sind, wie es den Anschein haben mag. Es ist eine paradoxe Situation: Im Haus sind die Flüchtlinge fast nur mit Menschen konfrontiert, die es gut mit ihnen meinen. Nach wie vor gibt es neben den ständigen Mitarbeitern etwa 70 Freiwillige, die hier regelmäßig Dienst tun. Viele von ihnen kommen aus dem "Team Österreich", das aus einer Kooperation mit Ö3 entstanden ist. Leute aus allen sozialen Schichten, pensionierte Lehrer, Studenten, Arbeiter, Ärztinnen. "Es ist wirklich erstaunlich, wie nachhaltig das Engagement der Zivilgesellschaft ist", sagt Burtscher. Aber das ist nur eine Seite.
Wenig Interaktion
Von den Diskussionen über Flüchtlinge und der immer schlechter werdenden Stimmung im Land bekommen die Leute, die hier untergebracht sind, nichts mit. Burtscher versucht gegenzusteuern: "Ein Drittel der Bevölkerung steht den Flüchtlingen skeptisch bis ablehnend gegenüber", schätzt sie, "bei einem weiteren Drittel kommt es sehr auf das Verhalten der Flüchtlinge an – wie sie sich benehmen, auch im Umgang mit Frauen". Burtscher: "Die Flüchtlinge haben keine Erfahrung mit Fremdenfeindlichkeit, es gibt viel zu wenig Interaktion mit der Bevölkerung. Wenn sie rauskommen, sind sie überrascht von der Stimmung im Land."
Probleme gibt es einige im Haus, manche entstehen aus den Reibereien, die es immer wieder zwischen Arabern und Afghanen gibt, andere sind viel banaler, aber nicht leichter lösbar: Das Schwarzfahren ist ein Riesenproblem. Mit einem Taschengeld von 40 Euro im Monat können sich die Asylwerber kaum Fahrscheine leisten – und werden ständig erwischt und bestraft. Die Verkehrsbetriebe kennen keine Kulanz.
Hausverweis
Im Haus herrschen strenge Regeln: Wer mit Drogen zu tun hat oder in Schlägereien verwickelt ist, fliegt sofort, bei anderen Verstößen gibt es Verwarnungen.
Wie es mit dem Haus weitergehen soll, ist offen. Der Vertrag läuft nur noch bis Mai, das Rote Kreuz verhandelt mit der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) und dem Fonds Soziales Wien (FSW) um eine Verlängerung. Ein Vorteil immerhin: Es gibt bis jetzt keinerlei Beschwerden von Anrainern.
Gehörlose Tochter
Im zweiten Stock lernen wir die Familie Yunis aus Afghanistan kennen. Die Eltern und die vier Kinder leben seit Oktober in einem Zimmer mit kaum zwanzig Quadratmetern. Sie wollen in Wien bleiben. Der Schulbesuch für die Familie ist eine unglaublich positive Erfahrung. In Afghanistan sind die drei Mädchen nicht zur Schule gegangen, nur der Bub. Jetzt blühen auch die Mädchen auf. Moladesser, die 14-jährige Tochter, tut sich noch schwer, das alles zu verarbeiten. Sie ist gehandicapt, hat in Wien einen Platz in einer Gehörlosenschule gefunden. Die Ärzte machen der Familie Hoffnung, dass durch eine Operation etwas zu verbessern sei. Die Eltern haben ihre sonstigen Erwartungen zurückgestellt. Was sie in Österreich zu erreichen hoffen: Bildung für die Kinder.
Eigene Kurse
Seit November, als DER STANDARD zum ersten Mal eine Reportage aus der "Vozo" machte, hat sich viel verändert. Es gibt ein Behandlungszimmer, in dem sich Ärzte abwechseln, es gibt einen Kindergarten, ein großes Lager für die Kleiderspenden. Da es vom Staat kein ausreichendes Angebot gibt, wurden eigene Kurse organisiert: 15 bis 20 Schulungen finden pro Woche statt.
Zäune und Obergrenzen
Im Erdgeschoß haben Studenten der Angewandten und der TU ein Café errichtet, in dem reger Betrieb herrscht. Studentinnen und Flüchtlinge schenken gemeinsam Tee aus, Kinder toben herum, auf der Bühne bauen Musiker ihre Instrumente auf. Im Haus gibt es mittlerweile auch drei Chöre. Die Realität, die Übergriffe auf Flüchtlingsquartiere, die Diskussion über Zäune und Obergrenzen, so macht es den Eindruck, werden hier ausgesperrt. In der Werkstatt sitzt Rebhi, ein Flüchtling aus der Westsahara, und bastelt Blumentöpfe für den Frühling. (Michael Völker, 25.2.2016)