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Politische Mitstreiter: Bülent Arinç (li.) und Abdullah Gül, hier bei einer Armeeinspektion im Jahr 2012, haben sich gemeinsam mit anderen bisher führenden Politikern innerhalb der Regierungspartei AKP als Opposition abgesetzt.

Bektas/ Reuters

Vielleicht sind es auch sechs oder gar 60. Ex-Minister Suat Kiliç soll bisweilen auch dabei sein in der Gruppe der Unzufriedenen und Verstörten, die Bülent Arinç um sich geschart hat, der frühere türkische Parlamentspräsident, Vizepremier und Regierungssprecher. In Arinçs Wohnzimmer in Ankara sind sie unlängst abends gesessen und haben darüber gegrübelt, wie alles gekommen ist und wohin es nun gehen soll: Sadullah Ergin, der frühere Justizminister, Nihat Ergün (Industrie und Technologie), Hüseyin Çelik (Bildung, Sprecher der Regierungspartei AKP) und Abdullah Gül, der ehemalige Staatspräsident. Fünf, mit Kiliç (Sport, Kultur, einst Fraktionsvorsitzender) sechs grummelnde Politiker der seit 2002 regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP).

60 sind es angeblich, die sich in Hamamönü, einem rundumsanierten Altstadtviertel von Ankara, zu einer "Bewegung" verschworen haben – so will es zumindest die Oppositionspresse in der Türkei die Öffentlichkeit glauben machen. Dass die eigentliche politische Opposition nach ihrer neuerlichen Niederlage bei der Parlamentswahl vor drei Monaten nicht viel zu sagen hat, trägt zum Interesse am Innenleben der konservativ-religiösen Regierungspartei bei.

Die Arinç-Gruppe ist jedenfalls real, und der Mann an der Staatsspitze nimmt sie ernst. Denn seine Kritiker sind politische Schwergewichte, von Anfang an dabei und gerade erst von der Bühne geschoben aufgrund der Parteiregelung mit den drei Abgeordnetenmandaten in Folge, die AKP-Politiker maximal annehmen durften; das Statut ist mittlerweile abgeschafft.

"Die Trolle von Trollen"

"Wir sind die Begründer dieser Partei, wir sind gute AK-Parteimitglieder. Was die Trolle von Trollen sagen, hat keine Bedeutung", verteidigte sich Bülent Arinç jüngst im türkischen Fernsehen. Twitter und die anderen sozialen Medien spielen eine große Rolle in den Kampagnen, die türkische Politiker gegeneinander führen.

Der Unmut über die Herrschaft von Tayyip Erdoğan geht tief. 2013 war vielleicht das Jahr der Wende für die AKP: Die Niederschlagung der Gezi-Proteste im Sommer und die Korruptionsermittlungen gegen Regierungskreise, die im Dezember mit aufsehenerregenden Razzien begannen, aber nach Säuberungen bei Justiz und Polizei kein glaubwürdiges Ergebnis erbrachten, entfremdeten viele Parteifreunde von ihrem ersten Vorsitzenden.

Prunk und Macht

Gefolgsleute des Predigers Fethullah Gülen – Erdoğans politischem Verbündeten – verließen die AKP oder wurden ausgeschlossen, die wirkliche Trennlinie zwischen Erdoğan und seinen alten Mitstreitern, so zeigt sich heute, verlief außerhalb dieser Kabale: Prunksucht und Verschwendung im Erdoğan-Zirkel stoßen fromme konservative Führer in der Partei ab. Die zunehmend sichtbare Gängelung von Justiz, Medien und Wirtschaft, ganz nach dem Vorbild der einst bekämpften Kemalisten und Putschisten, verstört so manche Parteigründer. Verschwörungstheorien, die keiner Prüfung standhalten, aber zumindest nach außen zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen dienen, machen die intellektuelleren Köpfe in der AKP sprachlos. Offensichtliche Fehler in der Außenpolitik kommen hinzu, Versäumnisse bei den Verhandlungen mit der PKK, auch Erdoğans Fixierung auf die Einführung eines Präsidialsystems zur Sicherung seiner persönlichen Macht.

Viele dieser Kritikpunkte finden sich in der Abrechnung des islamistischen Intellektuellen und Journalisten Levent Gültekin wieder, die den Titel "Glanzvolle Niederlage" trägt; sein Buch stand im Sommer und Herbst 2015 in den Bestsellerregalen der türkischen Buchhandlungen. "Es gab Ideale, die mich bei der Gründung der Partei motivierten. Ich finde sie heute nicht mehr", sagt auch der frühere Karrierediplomat und Außenminister der ersten AKP-Regierung, Yaşar Yakış, ein säkularer, liberal gesinnter Kopf. Yakış ist mittlerweile aus der Partei ausgeschlossen worden; sein Name steht nicht mehr auf der offiziellen Liste der Parteigründer vom August 2001 – ebenso wie jener von Bülent Arinç und Abdullah Gül.

Wackelkandidat Davutoğlu

Als Gül Anfang des Monats zusammen mit Hüseyin Çelik in einer schwarzen Limousine zu Arinç fuhr, wo zwei andere Ex-Minister warteten, hatte er zuvor mit Staatschef Erdoğan gesprochen. "Wir sitzen alle im selben Boot", sagte Gül danach, "wenn Wasser in das Boot läuft, ist es ein Schaden für alle von uns." Eine Parteiabspaltung hält kaum jemand für wahrscheinlich. Gül und Arinç hatten sich jahrelang von Erdoğan vorführen lassen und am Ende alles geschluckt.

Nun aber ist die innerparteiliche Opposition zumindest formalisiert. Ahmet Davutoğlu, der amtierende Regierungschef und offizielle Parteivorsitzende, will sie dulden, solange sie die Einheit der AKP nicht zerstöre. Davutoğlu allerdings gilt als der Nächste, den Erdoğan von der Bühne räumen könnte. (Markus Bernath, 25.2.2016)