STANDARD: Was hat Sie an Muammar al-Gaddafi so fasziniert, dass Sie ihm ein ganzes Buch widmen?
Khadra: Gaddafi begleitete mich und meine Generation während 40 Jahren, als Shakespeare-Figur, aber auch als Politiker. Er weckte als junger Caudillo hohe Erwartungen und enttäuschte sie später als Tyrann. Er war ein Fantast, ein Paradox.
STANDARD: Weil er seinem Volk das Heil versprach, dann aber als Diktator foltern und töten ließ?
Khadra: Ja, wobei man dazu wissen muss, dass Gaddafi aus elenden Verhältnissen stammte und als erster seines Stammes die Schule besuchen konnte. Er schaffte es an die Universität, wo er am eigenen Leib zu spüren bekam, wie hartnäckig sich die sozialen Unterschiede halten. Damit legitimierte er als Berufsmilitär den Putsch, mit dem er den König absetzte.
STANDARD: Wie erlebten Sie als Algerier Gaddafis Aufstieg?
Khadra: Wir Jugendlichen im ganzen Maghreb waren damals begeistert von ihm. Er war der Einzige, der das arabische Volk vereinen und besserstellen konnte – und das auch wollte. Die übrigen Herrscher sahen das ungern und marginalisierten ihn, doch er nahm es allein mit ihnen auf. Nach und nach verstieg er sich in seinen Größenwahn. Er begann den Westen zu ärgern und Terroristen zu finanzieren, er kerkerte Oppositionelle und Islamisten ein und bildete Todesschwadronen.
STANDARD: Womit er den Hass des Volkes auf sich zog ...
Khadra: Ja, aber er merkte das nicht einmal; in seiner Verblendung hielt er es für unmöglich, dass sich das Volk von ihm abwenden könnte. Er sah sich nie als Diktator, sondern als Tempelwächter für die Sache des Volkes. Zum Schluss verlor er gänzlich den Bezug zur Realität.
STANDARD: Sein Ende beschreiben Sie aus seiner Perspektive, in der Ich-Form. Aus Sympathie?
Khadra: Nein, ich wollte das Phänomen Gaddafi verstehen, indem ich mich in den Menschen versetzte. Ich fälle kein Urteil, ich beschreibe, wie dieser Mann stürzte.
STANDARD: War es im Nachhinein besehen ein Fehler, Gaddafi zu stürzen?
Khadra: Auf jeden Fall, das war völlig verfehlt. Schauen Sie, was heute aus dem Land geworden ist: Chaos, gewalttätige Warlords, Mafiosi, Kriminelle, neuerdings auch IS-Terroristen. Ich verstehe nicht, dass man einen Diktator wie Gaddafi vier Jahrzehnte lang schalten und walten ließ und ihn genau dann stürzte, als auch der Irak, Syrien oder Ägypten in Chaos versanken.
STANDARD: Gaddafis Sturz krönte also nicht den Arabischen Frühling, sondern erreichte das Gegenteil?
Khadra: Die Libyer wurden jeder friedlichen Entwicklung beraubt – ein furchtbarer Misserfolg, dessen Auswirkungen nicht absehbar sind. Die Lage in Libyen droht den ganzen Maghreb zu destabilisieren – so wie Syrien den Nahen Osten aus den Fugen hebt.
STANDARD: Und politisch? Libyen scheint entfernter denn je von einer Demokratie ...
Khadra: Der Westen verlangt mehr Demokratie für den arabischen Raum, doch das ist nicht von einem Tag auf den anderen zu bewerkstelligen. Demokratie ist ein langer Prozess; auch Europa musste ihn mit Kriegen, mit Despotismus, sogar mit Völkermorden teuer erkaufen. Demokratie erfordert zuerst die Bildung einer Zivilgesellschaft, die fähig ist zur intellektuellen Transzendenz, zur Öffnung nach außen. Sonst gibt es keine Öffnung im Innern.
STANDARD: Oft hießt es, die arabischen Staaten bräuchten für den Übergang autoritäre Regime ...
Khadra: Erforderlich wäre ein "Raïs", ein starker Mann – entschlossen, aber auch intelligent und menschlich. Wäre Gaddafi ein aufgeklärter Herrscher gewesen, hätte es funktionieren können. Sein Allmachtsanspruch und seine Paranoia machten alles zunichte.
STANDARD: In Ägypten haben sich nach den Muslimbrüdern die Militärs durchgesetzt. Was halten Sie von General Abdelfattah al-Sisi?
Khadra: Sisi handelt verfassungswidrig, politisch hat er keine Argumente. Aber es ist zu früh, ihn abschließend zu beurteilen, man muss ihm Zeit lassen. Sicher ist: Wenn er zum Diktator mutiert, wird er bestraft werden.
STANDARD: Wie soll sich der Westen gegenüber Bashar al-Assad in Syrien verhalten?
Khadra: Erstes Ziel ist es, die Terroristen zu besiegen, es gibt eine Hierarchie der Prioritäten. Nachher kann man sich immer noch um das Problem Assad kümmern.
STANDARD: Wird der Terrorismus genährt durch Diktaturen – oder braucht es diese vielmehr, um die Islamisten zu bekämpfen?
Khadra: Der Terrorismus lässt sich nicht allein mit Gewalt besiegen. Erforderlich ist der richtige Diskurs an die Adresse der Jugendlichen, die den Terroristen erliegen. Sie werden heute von islamistischen Imamen und den Kalifen der Apokalypse indoktriniert. Das Problem sind nicht nur die bewaffneten Kämpfer, sondern all jene Jugendlichen, die sich anwerben lassen.
STANDARD: Wie ließen sie sich deradikalisieren?
Khadra: Letztlich helfen wohl nur einfache und klare Argumente wie: Die Pflicht des Menschen besteht darin, zu leben und leben zu lassen, nicht zu töten. Und: Gott hat niemanden nötig, der für ihn kämpft, gerade weil er Gott ist.
STANDARD: Wird dies heute in den arabischen Ländern verbreitet?
Khadra: Nein, davon höre ich kaum etwas. Das ist umso unverständlicher, als die Menschen in Libyen, Syrien oder Ägypten wirklich genug haben von der Gewalt; sie wollen, dass dieser Terrorismus aufhört. Würde man die Jungen wirklich gegen den Terrorismus erziehen, gäbe es ihn bald nicht mehr. Doch das findet weder auf intellektuellem noch auf religiösem Gebiet statt.
STANDARD: Welche Rolle spielt der Islam?
Khadra: Das hat nichts mit Islam zu tun. Jemand, der vernichtet, was Gott geschaffen hat – nämlich das Leben –, handelt nicht religiös. Die Terroristen sind reine Kriminelle. Man muss sie von den Gläubigen unterscheiden. Als ich Offizier in Algerien war, fragte ich die Terroristen oft, warum sie so hasserfüllt und grausam seien. Sie hatten nie eine Antwort. (Stefan Brändle, 26.2.2016)