Der Moment, als die Tatortermittler bang die Luft anhielten. Der LKW wurde zu Veterinärhalle am Grenzübergang Nickelsdorf geschleppt, die 71 Toten, teils schon verwesenden Toten sorgfältig geborgen. Das war die Grundlage dafür, dass 70 identifiziert werden konnten.

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Eisenstadt – Der 27. August 2015 war ein brütend heißer Tag, einer von vielen in diesem Sommer. Auch politisch gab es kaum Abkühlung. Das Burgenland und die Innenministerin lagen sich in den Haaren wegen der Flüchtlingsunterbringung, der Quote und des Streitthemas Durchgriffsrecht.

Auch oder vor allem deshalb reiste Innenministerin Johanna Mikl-Leitner zur Nachschau nach Nickelsdorf, wo sie der Polizeidirektor schon erwartete. Da erhielt Hans Peter Doskozil einen Anruf.

Noch unterm berühmt gewordenen Flugdach am alten Grenzübergang formierten sich der Polizeidirektor und seine Chefin zum Krisenstab. Und wer wissen will, warum die beiden nun, ganz entgegen rot-schwarzer wadelbeißerischer Gepflogenheit, so auftreten, wie sie das tun, mag hierin einen Anfang sehen.

Bleich und sichtlich mitgenommen berichteten sie noch am selben Tag der Presse. Bis zu 50 Tote, so meinten sie. Tags darauf wusste man: 71 erstickten in dem luftdichten Kühl-Lkw, den eine ungarisch-bulgarische Bande als Schlepperfahrzeug eingesetzt hatte. Was dann folgte, zeigte merkwürdigerweise – oder bezeichnenderweise – zweierlei: EU-Europa funktioniert; und: EU-Europa funktioniert nicht.

Wo es etablierte Strukturen gibt und Menschen mit Sachverstand ungestört arbeiten dürfen, lief alles reibungslos. Die europäischen Polizei- und Justizbehörden, Europol und Eurojust, koordinierten die Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern, die so binnen kurzem zum Erfolg führten. Schon in der Nacht gab es erste Verhaftungen. Vor allem die Zusammenarbeit mit Ungarn wurde herausgestrichen. In Nickelsdorf gibt es ja seit vielen Jahren das von Beamten aus beiden Ländern besetzte Kooperationszentrum, da sind die Wege kurz.

Freilich hatte sich schon vorher gezeigt, dass in Europa nichts funktioniert, wenn die Politiker nicht Politik machen, sondern Spielchen spielen. Ungarn hatte zuvor schon Flüchtlinge so geschurigelt, dass es – noch vor dem 27. – Deutschlands Kanzlerin dazu gedrängt hatte, Dublin – für Syrer in Bezug auf Ungarn – für obsolet zu erklären. Ungarns Premier – in manchen Momenten war man beinahe versucht zu sagen: Staats- und Parteichef – Viktor Orbán schickte nun sonderzugweise Flüchtlinge an die österreichische Grenze, ohne freilich die Österreicher wissen zu lassen, wann, wo wie viele zu erwarten wären.

Kooperationsverweigerung

Die Polizei begann, in täglichen Kommuniqués die Zahl der Ankommenden zu veröffentlichen. An Wochenenden überschritten diese oftmals die Zehntausender-Grenze. Ende Oktober, als die Route sich an die Südgrenze verlagerte, waren es schließlich 300.000. Es wird nun, rückschauend, zu selten erwähnt, wie chaotisch diese Tage im Burgenland durch die manchmal wie Schadenfreude wirkende Kooperationsverweigerung der Ungarn zusätzlich noch gewesen sind.

Dieses damalige österreichisch-ungarische Verhältnis – dass der eine den anderen zum Narren hält oder jedenfalls der andere es so empfindet – ist mittlerweile Usus geworden in einem Europa, wo jeder jeden argwöhnisch beäugt, weil man aus Angst, als Sündenbock geprügelt zu werden, lieber gleich selber einen benennt.

Kriminalistisch ist alles abgeschlossen. Die 71 Menschen – acht weiblich, 63 männlich – sind bis auf einen identifiziert und teils sogar in der Heimat bestattet. Juristisch hat sich die Causa nach Ungarn verlagert, wo fünf Verdächtige auf ihren Prozess warten. Die U-Haft wurde am Donnerstag verlängert.

Bei seiner Bilanz-Pressekonferenz Ende Oktober wünschte sich Hans Peter Doskozil, nun Verteidigungsminister, "dass man immer im Hinterkopf behält, unter welchem Druck Menschen in so ein Fahrzeug gestiegen sind". Heute würde er wohl anfügen: "Einerseits ..." (Wolfgang Weisgram, 27. 2. 2016)