Früh übt sich: Familie als Hort der Ideologie, 1932. Aus Martin Pollacks neuem Buch "Topografie der Erinnerung".

Foto: Privatarchiv Martin Pollack

Mit drei Jahren das erste Gewehr: Gerhard Bast, 1914.

Foto: Privatarchiv Martin Pollack

30 Jahre später ist Bast Leiter eines Einsatzkommandos, das Juden und Partisanen "unschädlich" macht.

Foto: Privatarchiv Martin Pollack

"Solche Geschichten müssen erzählt werden." Martin Pollack, Chronist und Erzähler.

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Die Tante: Pauline Drolc, geb. Bast. Im August 1945 "zu Tode mißhandelt".

Foto: Privatarchiv Martin Pollack

Da sind diese drei Kinder, ein Bub, zwei Mädchen, ungefähr zwischen acht und zwölf Jahre alt. Auf dem einen Foto hält der Bub die Hand zum Hitlergruß erhoben, die beiden Mädchen zögern noch. Auf dem zweiten haben auch sie den rechten Arm in die Höhe gestreckt, das eine Mädchen sogar im Sitzen – ist das überhaupt statthaft, Heil Hitler!, ohne aufzustehen?

Wo die Bilder aufgenommen wurden, ist nicht bekannt, sie sind mit 1932 datiert und stammen aus Martin Pollacks Privatarchiv, genau genommen sind sie Familienbesitz und auf Umwegen erst vor einem Jahr in seine Hände gelangt. Eines der Bilder ziert jetzt den Umschlag seines eben erschienenen Buches Topografie der Erinnerung, in dem Pollack der Bedeutung solcher Aufnahmen auf spannende Weise nachspürt. Eigentlich tragen fast alle seine Bücher historische Fotos auf dem Cover, mit gutem Grund, denn aus dem Bildmaterial heraus erzählt Pollack Geschichte. Es ist die Wirkkraft solcher Bilder, die in seinem Werk diese Symbiose von Zeitgeschichte und Literatur erzeugt. Und wohl ist die intensive, jahrzehntelange Beschäftigung mit ihnen der eigentliche Anlass seines Schreibens. So wie die eigene Familiengeschichte ein wesentlicher Schreibantrieb ist.

Die Sache mit der Herkunft

Im Nachhinein betrachtet begann tatsächlich alles mit Fotografien: Das Wenige, das von seinem leiblichen Vater auf ihn gekommen ist, sind hauptsächlich Fotos aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren, darauf sieht man Gerhard Bast auf ausgedehnten Schitouren ebenso wie in der SS-Uniform, die er als Leiter von Sonderkommandos und als Gestapochef von Linz trug. Dann ist Martin Pollack von seinem Vater noch ein kleines Notizbuch geblieben (das übrigens heute im österreichischen Literaturmuseum ausgestellt ist). Man fand es 1947 bei der Leiche Basts; zwischen den Seiten war eine Haarsträhne eingelegt, von seinem Sohn. Martin Pollack war drei Jahre alt, als sein Vater ermordet wurde. Erinnerungen hat er keine mehr an ihn, nur dieses Material, dieses gespenstische Erbe.

Lange Zeit muss das alles rätselhaft und verwirrend gewesen sein, Erzählungen dazu gab es nicht, nur Andeutungen, und er selbst hat als Kind keine Fragen gestellt. Später wusste er, dass er darüber einmal schreiben wird, schreiben wird müssen – aber das hat er lange genug hinausgeschoben, aus Angst, er könnte "bei der Spurensuche auf Dinge stoßen, die meine ohnehin schlimmen Erwartungen noch übertreffen würden". So schreibt er zu Beginn seines wohl berühmtesten Buches Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater. Das Buch erschien 2004, da war Martin Pollack sechzig, sein Vater war zu diesem Zeitpunkt schon 57 Jahre tot.

Heute ist das fast auch schon wieder Geschichte, genauer Literaturgeschichte: Das Buch, das sofort ein Bestseller wurde, zählt zu den wichtigsten Werken in der jüngeren österreichischen Literatur und ist gleichzeitig ein signifikantes Beispiel für das, was man "Aufarbeitung" nennt. Dabei könnte man auf all das bereits gelassen zurückblicken, das Vergangene abhaken, wäre die Geschichte, die auch den Sohn geprägt hat, nicht immer noch intensiv genug. Vielmehr: Sie ist noch lange nicht abgeschlossen.

Im August 2015 sitze ich mit Martin Pollack auf dem Hauptplatz von Amstetten. Hier haben seine Großeltern gelebt, hier ist sein Vater aufgewachsen und er selbst hat hier einen Teil seiner Kindheit verbracht. Er kommt heute nicht oft in die Kleinstadt, aber jedes Mal ist es ein eigenartiges Gefühl, immerhin verbinden ihn mit dem Ort, trotz des Dunkels, das über der Familiengeschichte lastet, angenehme, schöne Erinnerungen. Es war eine unbeschwerte Zeit, das Vergangene war kein Thema – vielleicht ist es deshalb so nah geblieben.

Zum Beispiel: Wir sitzen im Schanigarten der Konditorei Exel, Schauplatz in Martin Pollacks Buch: Hierher ist er als Kind von seiner Großmutter regelmäßig geführt worden. Er grüßt artig, wie ihm aufgetragen, er macht einen Diener und bekommt von der alten Frau Exel jedes Mal eine große Portion Eis. Schließlich ist Martin das Kind einer angesehenen Nazifamilie, und das hat im Amstetten der Fünfzigerjahre noch immer viel Gewicht.

Sechzig Jahre später gibt es die Konditorei Exel immer noch, sie ist offenbar wirklich "zeitlos", wie Martin Pollack in seinem Buch schreibt, aber die Vergangenheit ist längst kein Thema mehr und auch mit dem Namen Bast wissen nur noch die wenigsten etwas anzufangen. Im Jahr davor ist der letzte männliche Vertreter dieser Familie hier gestorben, er war Jurist so wie Martin Pollacks Vater, Großvater, Onkel, Großonkel, und bis zuletzt, sagt man, ebenso überzeugter Rechter. Durch einen Zufall, über einen Wiener Antiquar, hat Pollack einen Teil des Nachlasses erworben: alte Familiendokumente, Fotos, Briefe, die neue Geschichten erzählen und die, wenn auch nicht freiwillig, beim richtigen Empfänger gelandet sind, denn zehn Jahre nach seinem Erfolgsbuch ist er neuerlich mit der Geschichte seiner Familie befasst, nicht zuletzt seit sich in Slowenien bisher unbekannte Spuren aufgetan und neue Recherchen in Gang gesetzt haben.

An diesem Nachmittag in Amstetten, als mir Martin Pollack davon erzählt, querte plötzlich die lokale FPÖ-Chefin den Platz, eine pensionierte Volksschullehrerin, die schon vor zwanzig Jahren mit einschlägigen Sagern zur Zeitgeschichte aufgefallen war. Neugierig geworden, weil sie ein weißes T-Shirt trug mit einem Schriftzug, den wir aus der Ferne nicht lesen konnten, blickten wir in ihre Richtung. Wir rätselten, was da auf ihrer Brust stehen konnte. Ging es gegen die "Flüchtlinge"? Als sie schließlich näher kam, war es doch nur die längst bekannte Aufforderung "Mut zur Heimat". Wir waren enttäuscht. Und doch kein zufälliges Stichwort an diesem Nachmittag, wenn man die Geschichte als Ganzes betrachtet: "Da gibt es diese dunkle Seite", hat Martin Pollack einmal gemeint, "und es hat mich fundamental interessiert, wie es dazu kommt."

Alle waren Nazis

Diese Seite hat sehr wohl mit "Heimat" zu tun: "In Tüffer in der Untersteiermark hatte (...) alles angefangen." So heißt es in dem Buch über seinen Vater Gerhard Bast. In Markt Tüffer, slowenisch Lasko, waren die Bast, bevor sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amstetten kamen, zu Hause; in Gottschee, slowenisch Kocevje, wurde Martin Pollacks Vater 1911 geboren, in eine deutschnationale Familie, die zu Ende des 19. Jahrhunderts in den Nationalitätenkonflikt der Monarchie geraten war. Zuerst verstanden sich die Bast als "Sprachgrenzendeutsche", später wurden sie überzeugte Nationalsozialisten. So tief reichen die Wurzeln, so schwer ist der Heimatboden.

"Der Vater, der Großvater, der Onkel, alle waren Nazis ...", betont Martin Pollack immer wieder in Interviews. Im Fokus der eigene Vater, SS-Sturmbannführer Dr. Gerhard Bast: 1945 auf den Fahndungslisten für Kriegsverbrecher, 1947 auf der Flucht ermordet. Oder wie es im Buch gleich zu Beginn, auf der ersten Seite heißt: "Sein gewaltsamer Tod war der Abschluss eines Lebens, in dem Gewalt eine wichtige Rolle gespielt hatte."

Aber die Gewalt, das hat Martin Pollack erst Jahre später erfahren, hat in der Familiengeschichte noch eine andere Spur gezogen: Pauline, eine Tante seines Vaters, wurde 1945 Opfer blindwütiger Rache. Sie war vermutlich die einzige Person in der Familie, die "frei war von nationalistischen Vorurteilen und großdeutschem Dünkel". Pauline Bast, verheiratete Drolc, Ehefrau eines Slowenen. Ausgerechnet sie, die keinem Menschen je etwas getan hatte, blieb von nationalistischen Revanchegelüsten nicht verschont. Als Tito-Partisanen die Untersteiermark besetzten, wurde auch sie aus ihrem Haus geholt. Nachbarinnen erzählten später, dass junge Männer gekommen seien, sie brachten Pauline in ein Konzentrationslager, aus dem sie nicht mehr zurückkehrte. Andere wurden noch im Ort erschossen oder sie wurden ins nahegelegene Bergwerk Huda jama ("Böse Grube") gebracht und dort ermordet, etliche lebendig eingemauert.

Pauline war siebzig, ihr Leben endete gewaltsam, weil sie eine Deutsche war. So ist der Lauf der Geschichte. In diese Geschichte gehört auch Paulines Neffe Gerhard Bast, beteiligt an der Ermordung von Juden und Partisanen in Russland, Polen und der Slowakei. Dieselbe Familie.

"Solche Geschichten", betont Martin Pollack, "müssen erzählt werden." Das hat er sich schon damals gesagt, als er begann, das Buch über seinen Vater zu schreiben: "Das bin ich ihm schuldig, die Dinge darzustellen." Und den "Opfern, die unter ihm gelitten haben". Allein schon deswegen führe kein Weg an der Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte vorbei – "ich brauche es, um mich selbst zu begreifen und zu verstehen, wer ich bin."

Von Pauline spricht Martin Pollack erstmals in den Kontaminierten Landschaften (2014), indem er ihr Schicksal als beispielhaft für viele andere dieser Zeit skizziert: eine Geschichte aus jenen "Bloodlands", von denen es im 20. Jahrhundert so viele gab und über die man so lange nicht hatte schreiben können. Gerade in Slowenien ist es auch heute noch schwierig, daran zu rühren. Über 600 Massengräber aus dieser Zeit werden vermutet, nur die wenigsten wurden bisher geöffnet und erforscht – das Thema ist nach wie vor politisch brisant. Wird man also über Paulines Schicksal, in dem die Geschichte der Gewalt nach dem Ende des Krieges fortgeschrieben wurde, je mehr erfahren?

Anfang 2015 hält Martin Pollack erstmals Fotografien von seiner Großtante in der Hand. Zum Beispiel dieses Familienfoto, aufgenommen in Zagreb in den 1920er-Jahren, irgendwann in noch glücklicheren Tagen. Es wurde später auf der Rückseite beschriftet, unter Paulines Name steht: "von den Tito-Slowenen im Lager Gutenhag bei Marburg zu Tode mißhandelt, ihr Grab ist unbekannt!"

Mit Gutenhag ist das Konzentrationslager Hrastovec gemeint, über das es kaum Informationen gibt. Der einzige bekannte schriftliche Beleg ist ein kleiner handgeschriebener Zettel eines Totengräbers, der sich die 31 Leichen aus Hrastovec notiert hat, die er zwischen 10. und 27. August 1945 auf dem Friedhof von Volicina beerdigt hat. Meistens hat er nur geschrieben: "eine männliche Leiche aus Hrastovec" oder "eine weibliche Leiche mit einem Kind". Gewöhnlich wurden zwei Leichen in einem Sarg beerdigt. Unter dem Datum 26. 8. steht: "Pavla Drolc aus Lasko". Tante Pauline. Sie hat keinen Sarg erhalten. Am selben Tag wurden auch zwei männliche Leichen eingegraben, ebenfalls ohne Sarg. Wie sie zu Tode kamen, ist unbekannt.

Als Martin Pollack über den eigenen Vater schrieb, galt es in erster Linie, emotionale Nähe zu vermeiden. Im Fall der Großtante ist die Distanz viel größer: Sie erscheint noch fremder, als es der unbekannte Vater war, aber im Gegensatz zu ihm ist sie Opfer, eine Figur also mit viel Raum für Empathie. Das ist nicht der Grund, dass ihre Geschichte erzählt werden muss. Eigentlich müsste jede Geschichte erzählt werden, auch die von Paulines Schwestern: Die eine war mit einem Kroaten verheiratet, die andere gar mit einem Juden. Auch mit diesem Teil der Familie pflegten die Amstettner Verwandten – die, die eindeutig auf der "nationalen" Seite standen – einen ebenso herzlichen Kontakt. Das eine schloss das andere nicht aus.

Was bleibt?

Was ist schon eindeutig in solchen Geschichten? Oft sind es nicht einmal Fotodokumente. Martin Pollack weiß nur allzu gut, dass auch sie trügen können, wie gerade auch ein Beispiel in seinem neuem Buch zeigt: Im Internet fand er einmal das Foto eines Erschossenen angeboten, die einzige Information dazu war ein Vermerk auf der Rückseite: "Polnischer Heckenschütze". Und dann, Jahre später, entdeckte er dasselbe Foto noch einmal, diesmal war es beschriftet mit "Ermordeter Volksdeutscher". Ein Bild, zwei Wirklichkeiten.

Gäbe es ein solches Foto von Pauline, könnte einmal auch "Volksdeutsche", das andere Mal "Slowenin" stehen. Und man könnte sogar den Exekutionsort einigermaßen genau bestimmen: im Schlosspark von Hrastovec, "an der Stelle des heutigen Teiches". Doch Pauline gehörte nicht zu den Erschossenen, das hätte der Totengräber vermerkt. Sie ist vermutlich an Erschöpfung gestorben, so wie die drei Kinder, die damals ebenfalls auf dem Friedhof beerdigt wurden.

Als Martin Pollack 2012 auf den Friedhof von Volicina kam, fand er keine Spuren, auch keine Gedenktafel, die wenigstens einen Hinweis gibt. Wo auf diesem Friedhof Pauline begraben liegt – neben einer Frau aus Ljutomer und zwei unbekannten Männern -, weiß niemand.

Man weiß überhaupt nicht viel, und die Geschichte, die erzählt werden muss, verflüchtigt sich jeden Tag mehr. In der alten nunmehr slowenischen Heimat gibt es kaum noch erkennbare Spuren. Auch in Amstetten, dem anderen Heimatort, wo die Familie seines Vaters ein Jahrhundert lang gelebt hat, verschwinden sie zusehends. Martin Pollack ist bei den Großeltern in einer geborgenen Welt aufgewachsen, das schafft immer noch fast sentimentale Gefühle. Aber da gab es auch "diese dunkle Seite", die sich irgendwann nicht mehr ausblenden ließ. "Erst viele Jahre später begann mir langsam zu dämmern, wie trügerisch diese Idylle gewesen war. In Wahrheit stand meine Kindheit unter einem dunklen Stern." Von da an wurde alles anders. Er kam immer seltener nach Amstetten. Irgendwann brach er mit der Familie, er brach mit der "geliebten Omi". Bis heute ist das ein wunder Punkt in seinem Leben.

Als wir am Ende dieses Nachmittags noch auf den Alten Friedhof in Amstetten gingen, schritt Martin durch die Gräberzeilen und las einzelnen Grabsteinen bekannte Namen ab. "Und lebt da noch wer? Gibt es da noch Nachkommen?" Vielleicht war das der Augenblick, in dem es zu fragen gilt: Was also bleibt? Und zu registrieren, dass die Vergangenheit irgendwann auch hinter dem eigenen Leben zurückbleiben wird. Mitsamt den "privaten Dämonen" und "quälenden Fragen".

Wir kamen zum Grab der Großeltern, in dem auch Gerhard Bast, Martin Pollacks Vater, begraben liegt, genauer gesagt, seine Asche. 1964 war der Leichnam, der 1947 auf dem kleinen Friedhof der Gemeinde Brenner beerdigt worden war, exhumiert, dann eingeäschert, die Urne nach Amstetten überführt worden. Ein letzter Akt: "Ich weiß nur noch, wie unbehaglich ich mich fühlte", heißt es im Buch, "und wie ich mir Mühe geben musste, um mir (...) nicht anmerken zu lassen, dass mich das späte Begräbnis unberührt ließ."

Aber sein Leben lang hat es Martin Pollack doch berührt und die Geschichte berührt bis heute, sie ist noch nicht zu Ende erzählt: In den letzten Jahren sind auch zur Person des Gerhard Bast sowie zu den Menschen, deren gewaltsamen Tod er verursacht hat, neue Informationen zutage getreten. Und irgendwo in der Ablage des Landesgerichtes Bozen muss noch der Akt aus dem Jahr 1947 liegen, mit Fotos von der Leiche – jene Fotos, die sich Martins Großmutter, die Mutter des Kriegsverbrechers und Mordopfers Gerhard Bast, geweigert hatte anzusehen. Auch Martin Pollack hat sie nie zu Gesicht bekommen. Der Akt ließ sich, als er für sein Buch recherchierte, nicht finden und er hat später nie mehr nachgefragt.

Aber "die Väter", heißt es in seinem jüngsten Buch, "geben uns nicht frei". Und wenn er demnächst das Buch über Tante Pauline schreiben wird, wird die dunkle Seite noch einmal und anders beleuchtet. Dann werden die bekannten und die fremden Bilder neue Konturen erhalten. (Gerhard Zeillinger, Album, 27.2.2016)