Clausnitz, der besorgniserregende neueste Höhepunkt in einer Reihe besorgniserregender neuer Höhepunkte besorgniserregend besorgter Bürger beim deutschen Nachbarn, weckt nicht nur Assoziationen mit bereits sattsam bekannten Bildern aus jüngerer europäischer Vergangenheit, sondern auch Erinnerungen an meine eigene Ankunft.

Wir kamen in besseren Zeiten. Es gab so was wie Anstandsuntergrenzen. Die Politik und ihre Vertreter wurden nicht von Erwartungen eines aggressiven Mobs vor sich hergetrieben, der sie dazu brachte, in geradezu erstaunlicher Steigerung einen grausam-dümmlicheren Satz nach dem anderen zu dreschen.

Ich erinnere mich gut an die Ankunft. Müde, glücklich, verunsichert, ängstlich, überdreht. Alles auf einmal. Auch unsere Kleider waren nach langer Reise verknittert und verschwitzt, auch wir reisten mit wenig Gepäck, auch wir rochen nach Angst.

Die meisten konnten die Aufschriften und Wegweiser am Flughafen Schwechat nicht entziffern. Nur wenige beherrschten Fremdsprachen, das war in einem diktatorisch abgeschotteten Land auch nicht vorgesehen. Auch wir wurden in einen Bus verladen. Der Bus wurde von Beamten begleitet, die uns nicht abweisend begegneten. Wir fühlten uns von den Menschen in Uniform beschützt und nicht bedroht.

Meine Mutter weinte trotzdem. Ich nicht, ich war zu fasziniert von den Kaugummiautomaten. Vor den Fenstern des Busses erwartete uns keine tobende Menge brüllender, fäusteschwingender selbsternannter Abendlandretter in ihrer milieubedingten Unmutsäußerung. Keiner zerrte mich in brutaler Umklammerung in eine kreischende Menge. Und keiner gab mir Schuld an Eskalationen, die von außen auf mich zugerollt waren.

Wäre ich übrigens halbwüchsig oder eine Mutter gewesen und hätte ich solche Szenen wie jene in Clausnitz erleben müssen, wäre das Spucken gegen die Scheibe, das Stinkefingerzeigen das Mindeste, was mir als spontane Unmutsäußerung eingefallen wäre. Könnte sogar sein, dass ich eine Kopf-ab-Geste gemacht hätte. Das ist übrigens trotz Neuinterpretationen keineswegs exklusives IS-Zeichen. Um dieser Geste zu begegnen, braucht man sich nur in diversen Beiseln und Schulhöfen umzusehen. (Julya Rabinowich, 27.2.2016)