Was meinen die Wählerinnen und Wähler und was heißt das für Wahlkämpfe und Wahlen?

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Wien – A liegt ganz knapp vor B. Nein, B ist hauchdünn vorn. Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen A und B. Alles ist möglich – und für die anderen so gut wie nichts mehr. C, D und E sind chancenlos in diesem Rennen.

Was nach Pferderennlogik klingt, spielt bei so gut wie jeder Wahl früher oder später auch eine Rolle. Zuletzt etwa in Wien, wo ein äußerst knappes Duell zwischen Rot und Blau prognostiziert worden war – und schlussendlich dann die SPÖ doch wieder weit vorn lag und die alte Ordnung in der Bundeshauptstadt weiterbestand.

Realität und Meinung

Welche Rolle spielen also Meinungsumfragen bei Wahlen? Verfälschen Sie das Ergebnis, weil sie im Vorfeld eine falsche Realität konstruieren, auf deren Basis Menschen vielleicht ihre Wahlentscheidung treffen? Wie beeinflussen sie die Wahlkämpfe? Sollte man sie womöglich in einem bestimmten Zeitraum vor der Wahl aussetzen oder gar verbieten?

Fragen, die auch bei der Bundespräsidentschaftswahl auftauchen werden. Nur wie damit umgehen? Es gab und gibt Länder, die mit Verboten reagierten, andere wieder gingen davon ab, berichtet die britische Politikwissenschafterin Melanie Sully, die in Wien das Go-Governance-Institut leitet.

Dann eben im Nachbarland

In Frankreich gab es ab 1977 ein einwöchiges Umfrageveröffentlichungsverbot vor Wahlen, aber die Zeitungen hätten es umgangen und im benachbarten Belgien oder in der Schweiz veröffentlicht, berichtet Sully im STANDARD-Gespräch. "Seit Anfang der 2000er-Jahre gibt es dort ein 24-Stunden-Verbot, aber viele Experten finden es fraglich, ob das wirksam ist."

In Belgien gab es ab 1985 ebenfalls ein Veröffentlichungsverbot, dort 30 Tage dauernd, dieses wurde aber 1991 – wie später auch in Frankreich – gerichtlich aufgehoben. Die Richterinnen und Richter vertraten die Auffassung, dass ein Verbot in Konflikt mit der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehe.

Freiheit der Meinungsäußerung

Artikel 10 zur "Freiheit der Meinungsäußerung" sagt: "Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein."

Portugal habe seit 2000 einen umfrage- und politikfreien Tag vor der Wahl, einen "Tag des Schweigens, an dem die Politik quasi ausgeschaltet ist, ein verordnetes Blackout", sagt Politologin Sully.

Kontrollierte Informationsquelle

Nicht nur in Europa plagt man sich mit der veröffentlichten Meinung der Bevölkerung und ihrem etwaigen Einfluss auf deren Wahlentscheidung. In Kanada etwa gab es ein Dreitageverbot, das der Oberste Gerichtshof gegen das Argument der Regierung, die meinte, Umfragen könnten die Wählerinnen und Wähler beeinflussen, aufhob. Laut Sully habe das Gericht "Bedenken gehabt, dass die Regierung eine Informationsquelle kontrollieren kann". Am Wahltag selbst dürfen keine neuen Umfragen veröffentlicht werden.

Verbot "nicht zielführend"

In Österreich beschäftigte sich eine parlamentarische Enquetekommission 2002 unter anderem mit der möglichen Beeinflussung von Wahlkämpfen bzw. Wahlergebnissen durch die Veröffentlichung von Meinungsumfragen unmittelbar vor Wahlen. Sie kam zum Schluss, dass ein Verbot "nicht zielführend" und mit Artikel 10 EMRK unvereinbar wäre.

Im Hinblick auf etwaige Verbote warnt Sully grundsätzlich davor, "dass es in einer durch und durch digitalisierten Welt eine Illusion ist, zu meinen, wenn man die Veröffentlichung von Meinungsumfragen verbietet, dann würden keine gemacht. Sie würden sowieso gemacht, aber Zugang hätten dann nur Eliten, nicht die sogenannten einfachen Wählerinnen und Wähler, das wäre demokratiepolitisch bedenklich."

Verantwortung der Medien

Entscheidend sei also, wie Medien damit umgehen, betont Sully: "Zentral ist, wie Journalisten Umfragen verkaufen und die Daten interpretieren. Sie sind wichtige Kommunikatoren zwischen Meinungsumfragen und Wählern, dessen müssen sie sich bewusst sein. Auch wenn wir es nicht beweisen können und die Wirkungsforschung noch keine klaren Ergebnisse geliefert hat, kann es Mitleids- oder Schneeballeffekte geben, wenn eine Partei oder ein Kandidat in Umfrage als vermeintliche Nummer eins oder an aussichtsloser Position, etwa für die Stichwahl um die Hofburg, ausgewiesen wird."

Wie also sollen Medien verantwortungsvoll mit Umfragen umgehen? Leitlinien dafür finden sich etwa beim US-amerikanischen National Council on Public Polls (NCPP), das 20 konkrete Fragen auflistet, die Journalistinnen und Journalisten beantworten sollen, wenn sie angemessen über Meinungsumfragen schreiben wollen.

Beipackzettel für Umfragen

Ähnliche Empfehlungen gab auch die Enquetekommission in Österreich. Um Umfrageergebnisse beurteilen und interpretieren zu können, benötigen "Leser, Seher, Hörer" Zusatzinformationen. Dazu gehören Basisinformationen zur Umfrage: Wer hat sie gemacht, Grundgesamtheit, über die eine Aussage getroffen wird (z. B. österreichische Wahlberechtigte, 16- bis 24-Jährige usw.), Größe und geografische Reichweite der Stichprobe ( z. B. 500 Befragte, österreichweit) plus der Anteil der Antwortverweigerer, Zeitraum der Befragung, Art der Stichprobe und Untersuchungsmethode. Wichtig ist die Angabe der Schwankungsbreiten, also die Genauigkeit der Ergebnisse. Der genaue Wortlaut der Fragestellung gehört ebenso offengelegt.

Weisenrat fehlt bis heute

Die Empfehlung der Enquetekommission über den Umgang mit Meinungsforschung vor Wahlen schloss 2002 so: "Dieser Weisenrat sollte als Instrument der Selbstkontrolle zunächst auf freiwilliger Basis eingerichtet werden." Es gibt ihn bis heute nicht.

Das NCPP wiederum kommt zum Schluss, dass (seriöse gemachte) Meinungsumfragen trotz aller Schwierigkeiten noch immer das beste Instrument sind, um die öffentliche Meinung zu erfahren. (Lisa Nimmervoll, 29.2.2016)