Die Verlockung ist groß, und die Kronen Zeitung hüpft das täglich vor: "Jetzt fallen alle über uns her!" (Freitagausgabe), "Das Versagen der EU-Grenzschützer" (Samstagausgabe), "Österreich weicht nicht vom Kurs ab" (Sonntagausgabe). Werner Faymann ist also empört. Wir befinden uns in einer Art Kriegszustand, zumindest auf diplomatischer und jedenfalls auf verbaler Ebene.

Die Position der EU und ihrer Mitgliedsstaaten regt tatsächlich zum Widerstand an. Da ärgern sich nicht nur unter Anleitung die Krone-Leser (und jene von Heute und Österreich, die thematisch an einem Strang ziehen). Der Ärger greift in allen Schichten um sich. Erinnerungen an die EU-Sanktionen werden wach. Schulterschluss?

Dass ausgerechnet die EU, deren Versagen sich in der Flüchtlingskrise offenbarte, Österreich kritisiert, weil das Land versucht, des nicht endenden Flüchtlingsstroms auf eigene Faust Herr zu werden, regt auf. Zu Recht auch. Die Entwicklung mag nicht jedem gefallen, und die Methoden sind unschön: Zäune und Soldaten an der Grenze, zuletzt wurde der Einsatz von Gewalt und Panzern diskutiert. Dazu die Gesichter von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz, die ihre Freude über die Aufrüstung im nationalen Abwehrkampf kaum verhehlen können. Sie suhlen sich in ihrer Polemik gegen diese arrogante EU.

Dem kann sich Faymann nicht entziehen: Er hat lange gebraucht, um die EU für sich zu entdecken, jetzt schickt er sie umso rascher zum Teufel, seine ehemalige Freundin Angela Merkel gleich mit. Beifallheischend reckt er die zornige Faust. Endlich einmal ein starker Kanzler sein. Der Boulevard schlägt immer schneller den Takt.

Am Ende sind sich aber fast alle darüber einig, dass Österreich handeln musste. Allerdings geht der Diskurs über Mittel und Methoden, der bei klarer Vernunft geführt werden müsste, in der geifernden Empörung, die um sich greift, unter.

Der Zersetzungsprozess der EU, die Renationalisierung Europas und die Entsolidarisierung werden massiv vorangetrieben. Wir schieben die Flüchtlinge dorthin zurück, wo sie hingehören: möglichst weit weg. Nach den Ursachen und Umständen fragt derzeit keiner mehr.

Dass sich ausgerechnet Österreich und Griechenland in die Haare kommen, ist absurd. Sie gehören zu jenen Ländern, die am meisten von der Flüchtlingsbewegung berührt wurden und viel, wenn auch nicht immer das Richtige getan haben. Diese beiden Staaten steigen unter den Beifallsrufen anderer Staaten, die von der Flüchtlingskrise kaum betroffen sind, gegeneinander in den Ring. Dieser nationale Watschenaustausch ist für die EU ein willkommener Anlass, von der eigenen Verantwortung abzulenken und diese Causa, in der es für die betroffenen Menschen um Not und Elend, um eine Frage des Überlebens geht, auf die lange Bank zu schieben.

Es ist verlockend, dem allgemeinen Gejohle nachzugeben und sich einer Politik zu ergeben, die über die Symbolik der erhobenen Fäuste nicht hinausgeht. Es bleibt aber dabei: Das Flüchtlingsproblem lässt sich nur gemeinsam mit und in der EU lösen – im Sinne aller Beteiligten. Wer jetzt dem Impuls der rhetorischen Kriegsführung nachgibt, erledigt das Geschäft der Menschenfeinde und jener Fanatiker, die sich am Zerfall der EU erfreuen, weil es ihre eigene Position um Millimeter größer macht. (Michael Völker, 29.2.2016)