Nun sollen also Grenzzäune auf der österreichischen Seite des Brenners errichtet werden, um möglichst wenige bis gar keine Flüchtlinge in unser Land zu lassen. Dafür haben Sie, sehr geehrter Herr Landeshauptmann Günther Platter, versucht, in Südtirol und in Rom um "Verständnis" zu werben. Ich will Ihnen zugute halten, dass dies nicht Ihre Idee war, aber es bleibt für mich – und ich denke, für viele Menschen in Österreich und Italien – unverständlich, dass Sie sich dafür von der Bundesregierung einspannen lassen.
Wenn dieses Vorhaben realisiert werden sollte, entstehen Konsequenzen, die ich mir gestatte, Ihnen vor Augen zu führen.
Erstens: Es entsteht nicht nur eine humanitäre Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes direkt an der Grenze vor unseren Augen, der Verkehr – er bewegt sich ohnedies in einer Schlucht – wird zwischen Bozen und dem Brenner eine Verstopfung erleiden, die – wenn sie beim Menschen eintritt – zu einem Organversagen führt.
Abputzen an Italien
Zweitens: Es war und ist die große Errungenschaft der EU, dass sich die Menschen in Nord- und Südtirol, die eine jahrhundertealte Geschichte und Kultur verbindet, endlich wieder ohne irgendwelche Grenzformalitäten als befreundete Nachbarn sehen konnten. Ein Stacheldrahtzaun nun zwischen Nord- und Südtirol? Glauben Sie wirklich, dass dafür eine Mehrheit der Bevölkerung in Tirol oder bei Ihren Freunden in Südtirol gegeben wäre? Machen Sie doch eine Volksbefragung!
Drittens: Sie helfen als Landeshauptmann mit, dass sich unsere Bundesregierung nicht nur an Griechenland, sondern auch an Italien abputzt, indem Sie verlangen, dass riesige "Auffanglager" in diesen Ländern entstehen, in denen "hoffentlich" niemand von den Flüchtlingen auf die Idee kommen soll, dass er nach Österreich weiterreist. In Griechenland sind bereits 25.000 Flüchtlinge in Lagern; ich wäre nicht überrascht, wenn diese Zahl bis zum Jahresende auf mehr als 250.000 hinaufschnellen würde. In Italien könnten es durchaus mehr als 100.000 sein und noch einmal so viele Menschen nächstes Jahr.
Grenzzaun ist nicht der Weisheit letzter Schluss
Viertens: Ein Grenzzaun am Brenner kann – selbst wenn keine Einreise nach Österreich gewollt sein soll – doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein! Verstärkte Kontrollen in den Zügen weit vor der Grenze und Stichproben beim Kfz-Verkehr – mit oder ohne Beteiligung österreichischer Beamter; eine Mitwirkung Österreichs sollte jedenfalls angeboten werden – sollten als Alternative bevorzugt geprüft werden. Die Freizügigkeit des Personen- und Warenverkehrs ist ein Grundpfeiler der EU, der nur als Ultima Ratio und nur für möglichst kurze Zeit umgestoßen werden sollte.
Fünftens: Die diplomatischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des Grenzzauns sind so gravierend, dass sie nicht verantwortet werden können. Lassen Sie diese Konsequenzen genauestens prüfen, bevor Sie den Stacheldraht den Menschen und der Landschaft zumuten.
Sechstens und "last not least": Der Grenzzaun würde den Flüchtlingsstrom gar nicht verhindern!
Erinnerung an die Nachkriegszeit
Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich kenne die Geschichte genau, wie nach dem Krieg verzweifelte Menschen alles gewagt haben, um dem Terror zu entkommen, und es auch geschafft haben! Tirol (genauer: die französische Besatzung in Tirol) hat schon einmal, Ende 1946, die Grenze für Flüchtlinge gesperrt. Diese haben daraufhin andere Fluchtwege gefunden. Sie können das auf der Homepage von Alpine Peace Crossing nachlesen. Im Sommer 1947 sind jeden zweiten oder dritten Tag Gruppen von 150 bis 250 Menschen nach Südtirol geflüchtet. In Summe waren es über 5.000 (jüdische) Männer, Frauen und Kinder, die vor den Pogromen in Osteuropa – berüchtigt war vor allem jener in Kielce in Polen im Juli 1946 – geflüchtet sind und den beschwerlichen 15-stündigen Marsch über den Krimmler Tauern nach Südtirol auf sich genommen haben, um ihrem Ziel, ins "Gelobte Land" zu gelangen, näher zu kommen.
Nun, 70 Jahre später, wird es wieder so sein, wenn Sie einen Zaun am Brenner aufstellen. Oder wollen Sie Grenzzäune auch in Sillian und auf dem Stallersattel, dem Reschen- und Jaufenpass, dem Timmels- und Stilfserjoch et cetera errichten? Und wollen Sie den Landeshauptmann von Salzburg überreden, auf dem Krimmler Tauern und der Birnlücke (mitten in der Kernzone des Nationalparks Hohe Tauern) ebenfalls einen Stacheldrahtzaun aufzustellen, damit niemand aus dem Südtiroler Ahrntal (über den Nationalpark-Friedensweg) nach Norden gelangt? Wollen Sie die Schweiz und Frankreich auch animieren, dem Tiroler Stacheldraht-Beispiel zu folgen?
Es gibt doch den Spruch "Bischt koa Tiroler, bischt koa Mensch!". Soll der Umkehrschluss "Bischt koa Mensch, bischt koa Tiroler" für Sie gelten? (Ernst Löschner, 1.3.2016)