Papier und Stift als einzige Möglichkeit, mit dem Zweifel zurechtzukommen: Die junge deutsche Schauspielerin Lea van Acken in "Das Tagebuch der Anne Frank" von Hans Steinbichler.

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STANDARD: Anne Frank liest man häufig schon in der Schule. Kannten Sie das Buch, als es darum ging, ob Sie diese Rolle spielen würden?

Van Acken: Ich kannte den Namen Anne Frank. Ein Bub in meiner Klasse hat das Buch früh gelesen und war ganz ergriffen. Er hat davon erzählt. Konkret gelesen habe ich das Tagebuch aber erst nach der Casting-Anfrage, da ist mir dann erst so richtig klar geworden, wer Anne Frank war.

STANDARD: Das Thema Holocaust wurde aber vermutlich in der Schule behandelt?

Van Acken: Immer mal wieder. Es gibt auch ein Bedürfnis, darüber zu reden. In unserer Klasse, aber auch zu Hause.

STANDARD: Man ist sich da nie sicher: Kommt das Thema zu viel vor oder zu wenig? Wie sieht man das als 17-Jährige?

Van Acken: Ich finde es wichtig, dass der Holocaust in der letzten Klasse noch einmal behandelt wird, weil wir uns dann eine eigene Meinung gebildet haben. Jede Generation muss sich auf ihre Weise damit beschäftigen. Die Zeitzeugen sterben aus. Das spielt eine große Rolle, denn das Thema muss trotzdem greifbar bleiben. Der Film hat mir geholfen, dazu einen Bezug zu bekommen: Anne Frank konnte dies nicht tun, sie ist ganz jung gestorben.

STANDARD: Wie lief das Casting?

Van Acken: Ich traf Hans Steinbichler, den Regisseur. Er hat gesagt, dass er meinen ersten Film "Kreuzweg" gesehen hat und dass ich mir keinen Stress machen solle. Ich musste eine Szene spielen, in der Anne um den Tisch springt. Eigentlich hatte ich drei Castings, immer mit den erwachsenen Schauspielern – nach dem dritten hatte ich die Rolle.

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STANDARD: Haben Sie dann in der Vorbereitung das Buch mit dem Regisseur gemeinsam gelesen? Oder allein in aller Ruhe?

Van Acken: Ich bekam im August 2014 die Zusage, ein knappes halbes Jahr später begannen die Dreharbeiten. Es war also viel Zeit dazwischen, viel Zeit auch für Zweifel. Ich konnte mir nicht anmaßen, Anne zu spielen, ihr Schicksal zu verkörpern. Ich hatte so großen Respekt, dass ich das Tagebuch nicht mehr lesen konnte. Die Lösung war, dass ich anfing, ihr Briefe zu schreiben, etwas von mir zu erzählen – und dann konnte ich es lesen, und zwar auf das Genaueste. Ich war auch in Amsterdam, der Eindruck dort war allerdings ein bisschen unwirklich, denn es sind keine Möbel mehr da. Da stehen die Menschen zwei Stunden Schlange, dann geht man gemeinsam durch das Hinterhaus, alles ist so klein. Es war gut, dass ich meine Eltern dabeihatte.

STANDARD: Inzwischen kann man das Tagebuch von Anne Frank auch unzensuriert lesen. Die frühere Ausgabe hat manches unterschlagen, zum Beispiel ihre offene Weise, ihre erwachende Sexualität zu beschreiben. Hat das bei Ihnen Scheu verursacht?

Van Acken: Klar, das waren Dinge, wo ich dachte: So etwas Intimes lesen und dann darstellen, wie kann ich das? Das macht ihr Tagebuch ja eben auch so greifbar, wie sie ihr Begehren beschreibt. Wenn ich das lese, verstehe ich mich selbst besser.

STANDARD: Haben Sie darüber nachgedacht, woher das Schreibtalent von Anne kam?

Van Acken: Da kann ich nur Hypothesen aufstellen. Sie war sehr reif für ihr Alter, ein Mädchen, das den Erwachsenen fast schon auf Augenhöhe begegnen konnte. Sie galt deswegen ja auch als schwierig. In ihrem Schreiben hat sie auch einen Prozess durchlaufen, ihre Gedanken wurden immer tiefgründiger.

STANDARD: Man spürt bei der Lektüre auf jeden Fall einen großen Verlust.

Van Acken: Unglaublich, nicht wahr? Anne wäre so ein weltoffener Mensch gewesen, ich bin sicher, sie hätte alle Kulturen bereist und wahrscheinlich noch ganz wichtige Texte geschrieben.

STANDARD: Wie empfanden Sie die Arbeit am Set?

Van Acken: Ich bin ein Mensch, der mittendrin sein muss. Hans war die für mich wichtigste Person, weil er es mir erlaubte, mich komplett fallenzulassen. Er musste mich schließlich nur noch anschauen, und ich wusste schon, was los war. Toll war auch die Energie der anderen Schauspieler. Da kam der Durst nach dem Erleben voll raus bei mir.

STANDARD: In der letzten Szene des Films sieht man Anne in Auschwitz. Die Szene gefällt nicht allen. Wie sehen Sie das?

Van Acken: Ich finde es wichtig, dass wir die ganze Geschichte erzählen. Es gibt ja vorher noch so schöne Szenen wie das Erdbeeressen. Auschwitz darzustellen ist so schwierig, man kann es eigentlich gar nicht in seiner ganzen Brutalität. Ich glaube, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben. Die Personen haben immer noch dieses Strahlen, auch wenn man ihnen alles genommen hat. Aber sie haben diese Stärke, die von innen kommt. (Bert Rebhandl, 3.3.2016)