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Mitglieder der National Congress Party in Indien demonstrieren gegen die Freilassung eines der sechs Vergewaltiger der Studentin Jyoti.
Wenn sie länger als acht Uhr arbeiten müsse, hole ihr Bruder sie mit dem Moped ab, erzählt die Kosmetikerin Neetu. Dabei wohnt sie nur 20 Minuten zu Fuß von ihrem Arbeitsplatz in Delhis mittelständischem Wohnviertel Jangpura entfernt. "Auf der Straße ist es abends nicht sicher", sagt die 22-Jährige. Während ihr Bruder Freunde trifft, verbringt sie die Abende zu Hause.
Die meisten Frauen im Westen sind es gewohnt, sich relativ frei zu bewegen. In vielen anderen Ländern ist das nicht der Fall. Auch in Indien ist Angst für viele Frauen ein ständiger Begleiter. Daran haben auch die Massenproteste nach der Gruppenvergewaltigung vor drei Jahren wenig geändert, als sechs Männer die 23-jährige Studentin Jyoti Singh in einem Bus so folterten, dass sie zwei Wochen später starb.
Noch immer machen Vergewaltigungen Schlagzeilen. Dabei scheint es keine Frage der Konfession, sondern der Kultur zu sein: Sexuelle Gewalt findet sich in allen Religionsgemeinschaften. Für Frauen hat das massive Folgen. Es beschneidet nicht nur ihren Bewegungsspielraum, ein unterschwelliges Gefühl der Bedrohung durchzieht oft derart den Alltag, dass Psychologen von einer "traumatischen Existenz" sprechen. 92 Prozent aller berufstätigen Frauen in Indiens Metropolen fühlen sich laut einer Umfrage, besonders abends und nachts, auf der Straße in Gefahr.
Frauen als Freiwild
Bewegungsfreiheit wird zur Frage des Geldbeutels: Nur wer sich ein Taxi oder Auto leisten kann, kann sich relativ sicher auch abends oder nachts bewegen. Von klein auf lernen Mädchen, dass sie sich vorsehen müssen. "Keinen Fremden ansehen oder anlächeln", heißt das ungeschriebene Gesetz. Schon ein zufälliger Blickkontakt, ein harmloses Lächeln kommt in vielen prüden Kulturen einer Aufforderung gleich. Ein nackter Arm, ein nacktes Bein, ein sich abzeichnender Busen gelten in konservativen Regionen als sexuelle Provokation.
Viele Männer behandeln Frauen wie Freiwild: Sie rufen ihnen schmutzige Namen nach, starren sie an oder verfolgen sie. Viele Frauen trauen sich nicht mal tagsüber in die Busse, weil Männer sie im Gedränge begrapschen. In vielen Zügen und Metros gibt es eigene Frauenabteile.
Während in einigen arabischen Ländern sexuelle Massenattacken auf öffentlichen Plätzen, "Taharrush gamea" genannt, Schrecken verbreiten, machen in Indien vor allem brutale Gruppenvergewaltigungen Schlagzeilen. Sexuelle Gewalt erscheint als Waffe: Sie wird benutzt, um Frauen oder bestimmte Gruppen einzuschüchtern und zu bestrafen. Auf dem Lande lassen Angehörige höherer Kasten Frauen vergewaltigen, um untere Kasten gefügig zu machen.
Verstörendes Frauenbild
Oder Männer vergewaltigen Frauen, um ihnen zu zeigen, wer das Sagen hat. Es sei das Recht der Männer, Frauen eine "Lektion zu erteilen", wenn diese sich schlecht benehmen, sagt Mukesh Singh in der BBC-Dokumentation "Indias Daughter". Singh ist einer der sechs Vergewaltiger der Studentin Jyoti. Ihr "Vergehen": Sie hatte "Das Leben des Pi" im Kino gesehen und war, mit einem Freund, um 21 Uhr in Delhi auf dem Heimweg. "Ein anständiges Mädchen treibt sich nicht um neun Uhr nachts herum."
Singh, inzwischen zum Tode verurteilt, scheint nicht einmal zu begreifen, was für ein unfassbares Verbrechen er begangen hat. Wie die anderen fünf Täter ist Singh ein Armutsmigrant, ein Zuwanderer, der vom Land mit seinem mittelalterlichen Weltbild in die Metropole Delhi kam. Sein verstörendes Frauenbild ist keine Ausnahme. Frauen, die allein unterwegs sind, die enge Kleider tragen, die Alkohol trinken oder Sex vor der Ehe haben, sind Schlampen, glauben diese Männer. Und mit Schlampen darf man alles tun.
Doch dieses "alte Indien" kollidiert mit dem "neuen Indien". Viele junge Inderinnen der aufstrebenden Mittelschicht rebellieren gegen die erstickenden Rollenkorsetts. Sie tragen Jeans und Miniröcke, gehen in Bars und haben Freunde. Die Studentin Jyoti stand für diese neue Frauengeneration, die sich gegen die alten Zwänge auflehnt.
Zwar verschärfte Indien nach der Grauenstat von Delhi die Gesetze. Nur läuft dies ins Leere: Die allermeisten Täter kommen ungeschoren davon, weil kaum einer am Ende verurteilt wird. Weite Teile der Gesellschaft sehen Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt. Auch die Polizei deckt nicht selten die Täter und schikaniert die Opfer. Aktivisten machen sich wenig vor: Es werde "mindestens eine Generation" brauchen, dieses archaische Frauenbild zu ändern, meint die indische Frauenrechtlerin Ranjana Kumari. (Christine Möllhoff aus Delhi, 11.3.2016)