STANDARD: Sie haben die gesamte Zweite Republik miterlebt. Steckt Österreich mit Arbeitslosigkeit und Flüchtlingskrise in der schwierigsten Phase seit der Nachkriegszeit?
Neisser: Es gab tatsächlich keine andere Situation, in der die Gesamtheit des Systems und der gesellschaftlichen Interessen so infrage gestanden ist wie heute. Die Leute haben Angst – und das führt dazu, dass man in der Politik mit einer emotionalen Steuerung enorm viel bewirkt. Früher standen sachliche Perspektiven nicht ausschließlich, aber doch stärker im Vordergrund, zumindest konnte man sie noch vermitteln. Heute ist es schwer, überhaupt einen Dialog zu beginnen, geschweige denn auf eine sachliche Ebene zu bringen. Da prallen Emotionen aufeinander, dass es erschütternd ist. Die sozialen Medien spielen eine große Verstärkerrolle, weil sie die Möglichkeit bieten, Gefühlsausbrüche spontan und völlig unkontrolliert loszulassen.
STANDARD: Wie sollten Politiker darauf reagieren?
Neisser: Es ist völlig falsch, wenn Politik nur mehr versucht, den vermuteten Interessen in einer Gesellschaft Rechnung zu tragen. Natürlich sollten Entscheidungen vom Volk mitgetragen werden, aber bei aller Hochachtung vor der Demokratie: Politiker haben auch eine Steuerungsaufgabe, indem sie für Überzeugungen eintreten, Richtlinien vorgeben, Kontinuität beweisen. Das geht heute verloren: Politik ist oft nur mehr ein Wehen im Wind, zum Schaden der demokratischen Kultur.
STANDARD: An welche Entscheidungen denken Sie dabei etwa?
Neisser: Die Flüchtlingspolitik ist das beste Beispiel. Quer durch die EU agieren Regierungsparteien permanent mit Rücksicht auf rechtspopulistische Bewegungen, die die schwierige Situation für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das ist ein völlig verfehltes Unterfangen, denn Politik ist immer auch ein Risiko: Es gibt keine Garantie, bei der nächsten Wahl für die eigenen Taten belohnt zu werden – auch wenn sie richtig waren. Die Politiker haben diese Risikobereitschaft heute weitgehend verloren, sie wollen alle nur im Amt bleiben. Da hat sich ein Pragmatisierungsdenken ausgebreitet.
STANDARD: Trifft der Befund auch auf die heimische Regierung zu?
Neisser: Dieses Eindrucks kann ich mich nicht erwehren. Die Regierung macht ihre Flüchtlingspolitik aus Angst vor Erfolgen der FPÖ. Auch Österreich muss man den Vorwurf machen, dass all das, was nun geschieht, den ethischen Prinzipien der Europäischen Union widerspricht: Dort ist die Rede von Solidarität, Rücksichtnahme und wechselseitiger Hilfe – doch diese Verpflichtungen spielen keine Rolle mehr. Das Etikett "christlich-sozial" darf sich die ÖVP nicht mehr umhängen.
STANDARD: Man habe ja für die gemeinsame europäische Lösung gekämpft, argumentiert die Bundesregierung. Aber weil die nicht funktioniert, müsse Österreich aus Notwehr nun selbst Grenzen setzen. Hat das nicht etwas für sich?
Neisser: Selbst wenn man auf eine nationale Lösung setzt, ist die Frage des Stils entscheidend. Die österreichische Regierung hat die Diplomatie aufgegeben – dass Wien und Berlin die Differenzen nun in offener Schlacht austragen, ist das glatte Gegenteil davon. Es war auch unvertretbar, Griechenland von der Westbalkankonferenz in Wien auszuschließen; die Griechen bei der Sicherung der EU-Außengrenze allein zu lassen ist ohnehin absurd. Kein Beteiligter hat das Recht auf Schuldzuweisung, auch Österreich nicht. Seit dem Vertrag von Amsterdam ist Flüchtlingspolitik in der EU Gemeinschaftsaufgabe. Österreichische Minister sollen mir einmal erklären, welche Initiativen sie bisher im Rat der EU gesetzt haben, um diese Idee zu realisieren.
STANDARD: Vielleicht ist sie auch einfach nicht umsetzbar. Ist die EU letztlich nur eine schöne, aber unrealistische Vision?
Neisser: Das will ich dann doch nicht hoffen, aber den Optimismus, dass die Union permanent immer näher zu einem staatenähnlichen Gebilde zusammenrückt, habe ich verloren. Andere Mitgliedsstaaten werden am britischen Egoismus Geschmack finden, und dann gibt es noch den Bruch zwischen Ost und West. Die EU hat eine etwas naive Sicht auf das eigene Motto: Hinter der "Vielfalt in der Einheit" verbirgt sich mitunter blanker Nationalismus.
STANDARD: War die "Osterweiterung" voreilig?
Neisser: Im Nachhinein klingt das oberg'scheit, aber ich war schon damals skeptisch, ob die EU den Big Bang von 2004 verkraftet. In den ost- und mitteleuropäischen Ländern herrscht mitunter ein ganz anderes Grundverständnis, das der tschechische Expräsident Václav Klaus so ausgedrückt hat: Sein Land habe die Souveränität 40 Jahre an Moskau abgetreten, da werde es dasselbe jetzt nicht mit Brüssel tun. Die Zukunft wird wohl – um einen Begriff aus der Flüchtlingsdebatte zu entwenden – auf ein Europa der Willigen und Unwilligen hinauslaufen.
STANDARD: Noch eine schwierige Partnerschaft, aber auf nationaler Ebene: Glauben Sie noch an die große Koalition?
Neisser: Von "groß" kann man eh nicht mehr reden. – Ich war zeitlebens ein Anhänger, aber nicht deshalb, weil ich in Rot und Schwarz so verliebt bin, sondern weil diese Koalition ein Fangnetz war. Selbst während der sozialdemokratischen Alleinregierung Bruno Kreiskys war die Mitsprache der ÖVP, etwa über die Sozialpartnerschaft, immer gesichert, es gab eine gemeinsame Verantwortung. Heute haben SPÖ und ÖVP das Gespür verloren, was eine Koalition bedeutet. Dass der eine dem anderen ständig öffentlich ausrichtet, was alles nicht geht, stört mich ungemein – ich nenne das die Drei-K-Strategie: koalitionäre kontraproduktive Kommunikation. Und ich frage mich: Wozu gibt es ein Arbeitsprogramm, wenn sich keiner daran hält?
STANDARD: Was, wenn sich die ÖVP nach den nächsten Wahlen der FPÖ an den Hals wirft?
Neisser: Dann fände ich das furchtbar. Das Problem der FPÖ hat sich ja nicht geändert: Ihr fehlt die personelle Qualität für eine Regierung. Allerdings glaube ich, dass es in beiden Regierungsparteien ein inneres Wettrennen um die Blauen geben wird. Wie locker Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl seine Koalition mit der FPÖ über die Bühne gebracht hat, war bemerkenswert – früher hätte es einen Aufstand gegeben. SPÖ und ÖVP sind sich sehr ähnlich, gerade in ihren Fehlern.
STANDARD: Zum Beispiel?
Neisser: Ich vermisse den geistigen Prozess vor einer Auseinandersetzung: dass über die Probleme nachgedacht wird, ehe man in die politische Arena steigt. Und ein ganz entscheidender Fehler ist: Beide Parteien sind nicht offen für Nachwuchs, sie bieten keine Basis für Leute abseits der angestammten Klientel. Wir brauchen eine neue Generation, die Politik aus einer gewissen Unabhängigkeit heraus machen kann – deshalb mein leider zum geringsten Teil erfolgreiches Engagement für ein persönlichkeitsorientiertes Wahlrecht, das Abgeordnete stärker an die Wähler bindet. Bei aller Loyalität: Man muss das Gefühl haben, dass Individuen entscheiden und nicht nur Handlanger einer Partei.
STANDARD: Braucht eine Partei nicht eine klare, einheitliche Linie?
Neisser: Schon, doch wie die Partei zu dieser Meinung kommt, ist entscheidend. Als Klubobmann habe ich letztlich auch verlangt, dass eine Linie mitgetragen wird, aber davor muss es möglich sein, ein Problem in allen Facetten auszudiskutieren. Jetzt wird oft von oben vorgegeben, was zu geschehen hat. Ich selbst habe meinen Aufstieg in der Politik dem Spielraum verdankt, den mir ein Mentor gegeben hat: Der einstige Bundeskanzler Josef Klaus war im Inneren ein sehr konservativer Mensch, ließ aber viel Freiheit zu.
STANDARD: Sie hatten in den Neunzigerjahren ja Chancen, selbst Parteichef zu werden. Wäre die Entwicklung der ÖVP dann erfreulicher verlaufen?
Neisser: Es gab tatsächlich einmal Bestrebungen, mich ins Rennen zu schicken, aber mein Level war der Klubobmann. Ein Kollege hat meinen Stil einmal so beschrieben: Man redet so lange, bis man nicht mehr weiß, was man will – aber am Ende kommt immer das heraus, was der Neisser will. Meine Stärke war eine Mischung aus Diplomatie und Kommunikation, doch für einen Parteiobmann fehlte mir die gewisse Brutalität, und letztlich bin ich auch ein bisschen zu sensibel. Als Parteichef wäre ich keine Erfolgsstory geworden.
STANDARD: Ähnliche Zweifel haben viele auch beim Präsidentschaftskandidaten der ÖVP. Werden Sie Andreas Khol wählen?
Neisser: Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, über mein Wahlverhalten keine Auskunft zu geben. Ich verrate nur so viel: Angebote anderer Kandidaten, ihren Unterstützungskomitees beizutreten, habe ich aus Restsolidarität mit der ÖVP heraus abgelehnt. (Gerald John, 6.3.2016)