A Family Portrait – Hidden Women: In der Werkserie "Çirçir" – ein Randbezirk von Istanbul – versammelte Nilbar Güres vor einem ehemaligen Haus ihrer Familie, das mittlerweile einem Tunnel weichen musste, Frauen aus unterschiedlichen sozialen Milieus, Generationen und mit unterschiedlichen Kleidungsstilen. Aber etwas irritiert. Da sind zu viele Hände auf dem Bild. Hinter der Familienidylle steckt noch mehr.

Foto: Courtesy the Artist; Galerie Martin Janda, Wien; Rampa, Istanbul

Wenn man heute einen Wohnsitz des indigenen Volks der Hopi im US-Bundesstaat Arizona betritt, wird man von jener Person begrüßt, die in wirtschaftlichen Belangen das Sagen hat – der Frau des Hauses. Sie wird Besucher einladen, Platz zu nehmen und sich vielleicht für ein Handwerksprodukt zu interessieren. Der Mann verharrt im Hintergrund und arbeitet an Textilien, webt oder spinnt. Hier sind es die Männer, die in den Clan der Frau einheiraten – wenn die Frauen ihnen zuvor einen erfolgreichen Heiratsantrag gemacht haben.

So erzählt der an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Uni Wien tätige Ethnologe und Anthropologe Andre Gingrich von einem Besuch bei einer jener raren Gesellschaften, die als matrilinear und matrilokal gelten – bei denen also Besitz über die weibliche Linie vererbt wird und Männer nach der Heirat bei der Mutter ihrer Frau einziehen. Neben den Hopi gehören etwa die Irokesen in den USA und Kanada oder die Minankabau auf Sumatra – sie sind mit etwa fünf Millionen Angehörigen die größte dieser Gruppen – zu den über den ganzen Globus verstreuten Bodenbaugesellschaften, die diese Lebensform pflegen.

Relativ friedliche Lebensform bei den Hopi

"Die Hopi sind in der voreuropäischen Zeit Nordamerikas ohne Staat ausgekommen. Sie waren sesshaft und pflegten eine relativ friedliche Lebensform, bei der die Frauen den Grund und Boden besaßen und die wirtschaftliche und rechtliche Kontrolle innehatten", charakterisiert der Ethnologe und Wittgenstein-Preisträger das indigene Volk. Gab es einen Streitfall in der Siedlung, besprachen das die erwachsenen, verheirateten Frauen in einer Versammlung – auch jene, die noch keine Kinder hatten. Die Hopi waren eine der wenigen derartigen Gesellschaften, wo es in Ordnung war, kinderlos zu bleiben.

Wichtige Rolle der Religion

Die Männer blieben bei diesen Versammlungen im Hintergrund. Dieses Verhältnis kehrte sich allerdings bei Fragen der Religion, Riten oder Zeremonien um: "Sobald es darum ging, wer beim Dorffest welche Verkleidung trägt, welches Lied singt und welchen Kampf tanzt, hatten die Männer das Sagen." Für die Hopi spielte Religion eine wichtige Rolle. Die von den Männern bestimmten Aspekte waren genauso wichtig wie eine politische Entscheidung, die das Verhältnis zum Nachbardorf betraf.

Im Alltag ist die entscheidende männliche Bezugsperson einer jungen Frau der Hopi, Minankabau oder ähnlicher Gesellschaften nicht unbedingt der eigene Vater, auch wenn dieser eine wichtige soziale Rolle einnimmt. "Bei wichtigen Anlässen, sei es ein Todesfall, Krankheit oder auch nur eine notwendige Reparaturarbeit am Haus, steht der Bruder der Mutter den Kindern zur Seite." Die Männer kümmern sich immer auch um die Familien ihrer Schwestern.

Gartenbaugesellschaft

Dass derartige Gesellschaften ihre Konflikte weniger oft mithilfe physischer Gewalt austrugen, liege aber weniger an ihren sozialen Strukturen, sondern eher an der Lebensform als Gartenbaugesellschaft, so Gingrich. "Extensive Bewirtschaftung bedeutete auch Streit um Land und Wasser. Gartenbaugesellschaften fehlt diese inhärente Logik." Ein großer Teil der matrilinearen Gruppen hat sich in Gartenbaugesellschaften herausgebildet.

Bodenbaugesellschaften, in denen Frauen eine zentrale Rolle spielen, gibt es auch im Umkreis des Himalaya bis heute. "In einigen Gesellschaften im Hochland von Tibet ist auch das Vorkommen von Polyandrie, also Vielmännerei, belegt", so Gingrich. "Die Herrscher des 17. und 18. Jahrhunderts verrechneten die Steuern pro Haushalt. Um die Last gering zu halten, gründeten beispielsweise mehrere Brüder mit einer Frau einen Haushalt."

Auch bei nicht sesshaften Jäger- und Sammlergesellschaften – von den Aborigines in Australien, über die Pygmäen in Afrika bis zu den Inuit am Polarkreis – sind die Verhältnisse zwischen Mann und Frau zumindest ursprünglich meist recht ausgewogen gewesen, so Gingrich. "Außer das Wissen über ihre Umwelt haben sie kaum etwas zu vererben. Deshalb ist bei ihnen sowohl Matri- als auch Patrilinearität selten", erklärt der Ethnologe. "Die Verhältnisse richten sich weniger stark nach vergangenen Generationen."

Die relativ starke Rolle der Frau fiel bereits bei frühen Kontakten mit der Kultur Europas auf: "Jesuitische Missionare waren entsetzt, wie viel die Frauen entlang des Sankt-Lorenz-Stroms im heutigen Kanada zu reden hatten. Das widersprach ihrem Frauenideal fundamental."

Rares Matriarchat

Ein Matriarchat im Sinne einer Herrschaft der Frauen analog zum Patriarchat gab es unter den matrilinearen Gruppen kaum. "Gartenbaugesellschaften wie die Hopi weisen sehr ausgewogene Geschlechterverhältnisse auf. Das Gegenteil von Patriarchat besteht ja auch nicht im Matriarchat, sondern in einer Lebensweise, wo keines der Geschlechter dominiert."

Am ehesten könne man einige Agrargesellschaften im vorkolonialen südlichen Afrika als Matriarchate klassifizieren. "Dort gab es Königshöfe, an denen weibliche Eliten herrschten und von weiblichen Elitetruppen beschützt wurden", so der Ethnologie. "Hier könnten wir tatsächlich sagen, dass die Mütter geherrscht haben. Und hier befinden wir uns auch am historischen Ursprung des Amazonenmythos." (Alois Pumhösel, 5.3.2016)