Graz – Wer durch Christbaumkugeln die Welt betrachtet, mag auch in einem zerbombten Haus noch etwas Schönes erkennen. Die achtjährige Christine (Zita Gaier) greift in Maikäfer flieg immer wieder zu diesem Behelf, um den Alltag der letzten Kriegsmonate von 1945 vorübergehend in ein anderes Licht zu rücken. Allerdings wütet der Krieg schon so lange, so gleich zu Beginn einmal ihr Kommentar, dass sie sich an gar keine andere Zeit mehr erinnern könne.

Zwei Schwestern verbringen die letzten Kriegstage in einer Sommerresidenz, in der die Ungewissheit der Normalzustand ist: Zita Gaier (links) und Paula Brunner in Mirjam Ungers "Maikäfer flieg".
Foto: Diagonale / KGP

Und doch ist dies die Anstrengung von Roman und Film: Beide versuchen eine Vorstellung davon zu vermitteln, was es geheißen haben kann, in dieser Zeit groß zu werden. Eine Kindheit, die von einem Widerspruch durchzogen wird: Da die Schieflagen der Außenwelt, dort der Blick eines Mädchens, das auch die größte Entbehrung für gegeben nimmt, weil es nichts anderes kennt.

Nüchterne, lapidare Prosa

Die Filmemacherin Mirjam Unger hat Christine Nöstlingers eigene Kindheitserinnerungen von 1973 adaptiert. Wie jede Verfilmung eines bekannten, ja unverwechselbaren Buches muss sie sich den unfairen Vergleich mit der Vorlage gefallen lassen, denn schließlich werden nur die schlechten Vorlagen ignoriert. Nöstlingers Buch zeichnet ein herrlich lapidarer Tonfall aus, der noch in der bedrängendsten Situation unverdrossen bleibt. Die ungeheuerlichsten Dinge, ob die Gewalt des Nazi-Regimes oder der Opportunismus der Österreicher, werden einfach ausgesprochen. Nöstlingers Prosa ist nüchtern, voll kühner Direktheit und trockenem Humor. Und der Blick auf die Menschen aufrichtig, liebevoll, auch ein bisserl gemein.

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Einen solchen Tonfall in einem Film zu wahren, ist kein leichtes Unterfangen. Unger und ihre Kamerafrau Eva Testor halten sich vor allem an die kindliche Perspektive der Erzählerin, die dem Film einen Rahmen verleiht. Die Einstellungen suchen immer wieder eine subjektive Verankerung, betrachten das Geschehen aus übergroßer Distanz oder bevorzugen das Detail gegenüber der Übersicht. Zita Gaier gibt das Mädel als eigensinniges Wesen, nur die Renitenz, den Trotz nimmt man ihr nicht immer ab.

Eine fremde Welt entdecken

Eine bürgerliche Villa in Neuwaldegg wird das neue familiäre Domizil. Für Christine, ihre Schwester, die ein wenig zu schnell aufbrausende Mutter (Ursula Strauss) und den an der Front verletzten, besonneneren Vater (Gerald Votava) ist es eine fremde Welt. Mit unbekannten Ecken für neugierige Kinderaugen, mit Gartenzwergen, gemalten Porträts und führertreuen Nachbarn samt Dobermännern.

Unger inszeniert eng an der Vorlage, wie die Klassenunterschiede während des Krieges brüchig werden und jeder einfach überleben will. Anstelle eines Lieds hämmert Christine "Ich will ein halbes Schwein" ins Klavier. Die episodische Struktur des Films lässt die Figuren erst langsam Konturen erhalten. Er braucht lange, um in Bewegung zu kommen.

Als Problem erweist sich überdies die sprachliche Vielstimmigkeit: Tonlagen, die nicht immer harmonieren. Statt auf Christines Blick zu beharren und sich klarer von den Konventionen eines Kostümdramas zu lösen, fällt der Film in einen unverbindlichen Realismus zurück. Szenen zu ausdrücklich zu erzählen kann auch ein Zeichen von zu großem Respekt gegenüber der Vorlage sein.

Das Aufregende der Ausnahmesituation

Eine der filmisch freieren Sequenzen kommt erst, als die Russen schon im Haus ihre Stellung bezogen haben. Christine schleicht sich in der Nacht zum 1. Mai aus dem Haus und ignoriert die Warnungen vor den wodkabefüllten Soldaten. Das Mädchen huscht durch einen rotbeleuchteten Garten voller Verheißungen, und plötzlich wird ohne Worte klar, dass diese historische Ausnahmesituation für ein Kind auch etwas eminent Aufregendes haben musste.

Überhaupt sind es die Russen, die Maikäfer flieg schließlich mehr Bodenhaftung verleihen. Vielleicht auch deshalb, weil sie dem ungefähren Miteinander des ersten Teils ein klares Gegenüber geben. Im Armseligsten der Russen, einem miesen Koch namens Cohn (schön grotesk: Konstantin Khabensky) findet Christine ihren innigsten Freund – einen, der weiter außerhalb jeder Ordnung steht als sie selbst. Von allen Figuren bleibt er am stärksten in Erinnerung. "Macht nix", sagt er am liebsten.

Ab Freitag bundesweit im Kino

Die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, wird am Dienstag erstmals unter der neuen Leitung von Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber in der Grazer Liszt-Halle eröffnet. Gezeigt werden 158 Filme, wovon 68 Österreich-Premieren sind. Ein Tribute ist der heimischen Produzentin Gabriele Kranzelbinder gewidmet, die auch Maikäfer flieg mitrealisierte. Die Kurt-Waldheim-Jahre dienen als gemeinsame Klammer einiger historischer Programme. (Dominik Kamalzadeh, 8.3.2016)