Etwa zwei Drittel der Diabetes-Patienten leben in Städten. Eine Studie zeigt kulturelle und soziale Faktoren auf, die für die Entwicklung der Krankheit eine maßgebliche Rolle spielen.

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Brüssel/Wien – Eine von elf Personen leidet an einer der drei möglichen Formen von Diabetes. Der erste Typus betrifft Menschen meist von Kindheit oder Jugend an und stellt eine Autoimmunreaktion des Körpers dar. Die Krankheit entsteht in erster Linie abhängig von familiärer Veranlagung und Erbgut. Aber auch Infektionen und andere Umwelteinflüsse spielen eine Rolle. Derzeit forschen Wissenschafter an Therapiemöglichkeiten.

Typ 2 wird am stärksten durch den Lebensstil beeinflusst: Hohes Körpergewicht, wenig Bewegung und mangelhafte Ernährung sind die größten Risikofaktoren. Die dritte Form: Schwangerschaftsdiabetes. Sie entsteht, wie der Name nahelegt, während der Schwangerschaft und hört meistens auch mit selbiger auf, kann allerdings schwerwiegende Folgen für Mutter und Kind haben.

An Diabetes Typ 2 erkranken die Menschen am häufigsten. Ein Anstieg wird sowohl in der sogenannten westlichen Welt als auch in Entwicklungs- und Schwellenländern verzeichnet. Dafür sind nicht nur weniger gesunde Ernährungsweisen bzw. Bewegungsmangel verantwortlich. Ein weiterer Risikofaktor: Die zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung. Selbst Urbanisierung und wirtschaftliche Entwicklungen tragen dazu bei, dass Diabetes Typ 2 immer häufiger auftritt und als eines der größten Gesundheitsprobleme des 21. Jahrhunderts betrachtet wird.

Einfluss von Geschlechterrollen und Psyche

Was nun das Wohnen in Städten genau mit der Krankheit zu tun hat, wurde vom Projekt "Cities Changing Diabetes" im vergangenen Jahr untersucht. Immerhin leben zwei Drittel der über 400 Millionen Diabetespatienten in Städten. In fünf Großstädten mit insgesamt 60 Millionen Einwohnern wurden unter der Leitung des University College London ein Jahr lang Einflussfaktoren zum raschen Anstieg von Diabetes Typ 2 in Städten analysiert. Darüber hinaus waren weitere Universitäten, Pharmafirmen, Non-Profit-Organisationen sowie politische Entscheidungsträger beteiligt.

Das Ergebnis: Soziale und kulturelle Faktoren spielen eine größere Rolle als bisher angenommen. Diese erhöhen sowohl das Risiko von Stadtbewohnern, sorgen aber auch dafür, dass Typ 2 Diabetes seltener diagnostiziert und behandelt wird. Die Ursachen für und der Umgang mit der Erkrankung sind divers: In Mexiko-Stadt hängt Diabetes Typ 2 sehr stark mit Zeitdruck zusammen. Ebenso mit langen Arbeitswegen, sozialen Risiken wie Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Geschlechterrollen tragen möglicherweise zum erhöhten Risiko für Frauen bei, da diese ihre eigene Gesundheit vernachlässigen, um keine Last darzustellen.

In Shanghai hingegen wird Diabetes Typ 2 eher mit Schwäche und Alter in Verbindung gebracht und führt zu einer Stigmatisierung der Erkrankten. Probleme werden kulturell bedingt eher geleugnet, daher bitten Menschen ihre Freunde, Familien und Ärzte nur ungern um Hilfe. Bei den gut zwölf Millionen Bewohnern der nordchinesischen Hafenstadt Tianjin stehen andere Umstände im Vordergrund: Sie leiden an Überarbeitung, schlechter psychischer Gesundheit und ungünstigen Ernährungsgewohnheiten.

Diabetes ist selten oberste Priorität

Im US-amerikanischen Houston geht man traditionell davon aus, dass die finanzielle Situation stark mit Diabetes korreliert. Die Studie zeigte jedoch, dass diese Auffassung nicht mehr zeitgemäß ist – denn sowohl Menschen mit und ohne finanzielle Probleme sind von Diabetes Typ 2 betroffen. Kopenhagen ist mit knapp 600.000 Einwohnern die kleinste Stadt, die untersucht wurde, und gilt mit ihren vielen Radfahrern als verhältnismäßig gesund. Hier steht Diabetes allerdings auch bei den Patienten selten oben auf der Prioritätenliste. Wichtiger werden andere soziale und gesundheitliche Probleme eingestuft, etwa Arbeitslosigkeit, finanzielle Schwierigkeiten und Einsamkeit.

Bei solchen Unterschieden liegt es laut den Forschern nahe, Betroffene unterschiedlich anzusprechen, aber auch, die jeweiligen Umstände zu verändern, die die Entstehung von Krankheiten wie Diabetes 2 begünstigen. Um innerhalb der Europäischen Union zu evaluieren, welche Maßnahmen gegen Diabetes als sinnvoll eingeschätzt werden, ist der vierte Teil der Befragung zu chronischen Krankheiten entstanden. Die Umfrage findet in Zusammenarbeit mit dem STANDARD statt und ist nun auf der Plattform ReiSearch verfügbar. Ende April werden die Ergebnisse vorgestellt und auch im STANDARD veröffentlicht. (red, 9.3.2016)