Mai 2015. 70 Jahre Kriegsende, Befreiungsfeiern: Viel sei in der Gedenkpolitik erreicht worden! Man freut sich über innovative Denkmäler, die den Nazimief dieser Republik vergessen machen. "Niemals vergessen", aus der "Geschichte lernen"! Fragt sich bloß, was.

Just in dem Moment, da wir in der Auseinandersetzung demokratiepolitisch angekommen sind, wo wir aus Gründen der Staatsräson 1955 behauptet haben zu sein, nämlich in einer deutlich ausgesprochenen Distanz zu den Zielen des Nationalsozialismus, wird uns die Feierlaune zum 70. Jahrestag schon wieder vergällt: Jetzt ist "Flüchtlingskrise". "Flüchtlingskosten". "Wertedebatten". Taktieren um "Flüchtlingsobergrenzen". Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist weit weg.

Dabei ließe sich doch, was ja angeblich alle immer wollen, aus der Geschichte von 1945 etwas lernen. Etwa dies: Bereits 1944 rechneten die Alliierten mit 11,3 Millionen "displaced persons" (DPs), eine Zahl, die der Realität entsprach. Am 8. Mai hielten sich innerhalb der heutigen Grenzen Österreichs rund 1,65 Millionen DPs auf: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Überlebende, aber auch radikal-faschistische Flüchtlingsgruppen. Dringlichste Aufgabe: Erfassung und Registrierung der DPs und deren Versorgung in provisorisch errichteten Lagern. Allein in Kärnten befanden sich Ende Mai 1945 rund 130.000 DPs. Eingedenk der Nachkriegssituation könnte man die Kirche im Dorf lassen und von einer bewältigbaren Aufgabe ausgehen.

Doch Europa fürchtet sich. Österreich erst recht. Vorzugsweise vor "radikalisierten" muslimischen Männern. Und während die Furcht vor tatsächlichen und imaginierten Bedrohungsszenarien wächst, radikalisiert sich die europäische Gesellschaft atemberaubend schnell. In der Sprache, in Gesetzen, in Taten. Fantasierten die Nazis noch von der "roten Flut", so sind es jetzt "Flüchtlingsfluten". "Flüchtlingslawinen". "Flüchtlingsströme". Da schwappt schnell was über. Zur Stimmung passt, wenn der ÖVP-Generalsekretär nach Anschlägen in Paris erklärt, dass man, um weitere Tote zu verhindern, auch Einschränkungen der Bürgerrechte in Kauf nehmen müsse.

In Österreich gab das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung bekannt, dass 2015 in den ersten drei Quartalen mehr rechtsextreme Taten zu verzeichnen waren als im gesamten Vorjahr. Parolen von der "Islamisierung des Abendlandes" und Strafandrohungen gegen "Integrationsunwilligkeit" korrelierten mit der Verfestigung von Vorurteilen.

Klar, dass sich die anlässlich der Terrorgefahr gestarteten "Deradikalisierungsmaßnahmen" durchwegs an Migranten richten. Doch wer, bitte, kümmert sich um die Deradikalisierung des autochthon-österreichischen Aggressionspotenzials? In einem Land, über dessen antisemitische Gewaltexzesse und Teilhabe an der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Gewaltpolitik ein halbes Jahrhundert so offensiv geschwiegen wurde? In einem Land, in dem die politische Rechte mittlerweile fast ein Drittel der Wähler hinter sich hat?

Am 21. November 2015 ein Vorfall: Auf dem Wiener Ballhausplatz eine Demo "gegen Asylmissbrauch". Die Veranstalter stellten am Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz ein Rednerpult auf, um von dort aus zur Selbstbewaffnung aufzufordern. Dazu der Aufruf, die Regierung aus dem Amt zu werfen und Europa zu einer "Festung gegen Flüchtlinge" zu machen. Die Wiener Polizei hatte mit den Veranstaltern zwar eine Vorbesprechung abgehalten, jedoch keinen Grund erkennen können, die Kundgebung zu untersagen. Warum auch immer.

Empörung über die missbräuchliche Verwendung des Denkmals. Rasch steht ein Betretungsverbot im Raum, zum Schutz der Würde des Denkmals. Irgendwann die Entscheidung: Tretgitter während Demonstrationen, so die politische Lösung, die am prompten Veto des Künstlers scheitert. Aber ist es eine "Umkehr des Zweckes des Denkmals", wenn sich dort "rechtslastige Gruppierungen breitmachen", wie etwa der Wiener Kulturstadtrat meint?

Mit der Entscheidung für Olaf Nicolais Entwurf wurde dem Denkmal eine klare politische Funktion im Rahmen aktueller politischer Diskussionsprozesse zugesprochen. Die denkmalsgeleitete Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart war explizit intendiert; die Jury entschied sich explizit dafür. Tatsächlich erschließt sich die Botschaft erst mit der Begehung des x-förmigen Sockels: Nur wenn sich das Individuum selbst zu einem Teil des Denkmals macht, lässt sich die Inschrift "all alone" erkennen. Mit einem Betretungsverbot entsorgt man also nicht nur die Botschaft der Geschichte, sondern auch das dem Denkmal immanente Potenzial der kritischen Gegenwartsauseinandersetzung.

Zur funktionalen Einschränkung politischer Denkmäler gibt es historische Beispiele. So entschied der Ministerrat bezüglich des 1947 errichteten und 1953 in Völkermarkt gesprengten Widerstandsdenkmals (heute am Persmanhof), dass eine originalgetreue Restaurierung der martialischen Figurengruppe nach der Sprengung nicht mehr infrage käme. Er begründete dies damit, die deutsche Kärntner Bevölkerung nicht weiter provozieren zu wollen. Genützt hat es nichts. Auch simplere slowenische Grabdenkmäler fielen 1972 den aggressiven Attacken der Deutschnationalen im Rahmen des "Ortstafelsturms" zum Opfer.

Ebenso sinnlos erscheint es, mit einem Betretungsverbot die Würde des Deserteursdenkmals zu schützen. Denn hier geht es nicht um sinnstiftendes Totengedächtnis und Grabpflege, sondern um ein Monument der kontinuierlichen politischen Auseinandersetzung. Eine missbräuchliche Verwendung muss eine demokratisch verfasste Gesellschaft aushalten. Einen gewaltigen Rechtsdruck, wie wir ihn derzeit erleben, sollten wir hingegen nicht akzeptieren. Ein Betretungsverbot erscheint dabei als Lösung, die nicht nur am Kern des Problems vorbeimarschiert, sondern sich auch als kleine Schwester bei der Einschränkung mühsam errungener bürgerlicher Freiheiten geriert. (Lisa Rettl, 8.3.2016)