Foto: Sead Husic

Einen 500. Geburtstag zu feiern, das ist schon was. Die Deutschen tun das ausgiebig. Da fließt das Bier in Strömen – und das ist auch Sinn der Sache: Denn geht es nach der deutschen Lesart, dann feiert das Bier, das eigentliche, das richtige, das reine Bier am 23. April seinen 500. Geburtstag. Da mag man nicht abseitsstehen, da will man gerne gratulieren und mitfeiern.

Es ist schon merkwürdig: Zu einer Zeit, da die Zehn Gebote in Vergessenheit geraten, macht das doch erheblich jüngere Reinheitsgebot Schlagzeilen – und ist jedem Bierkenner geläufiger als etwa die biblische Vorschrift "Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat."

Na gut: Mancher achtet den Sabbat, nach neutestamentarischer Auffassung ist das der Sonntag, indem er ein gutes Bier trinkt – nach dem Kirchgang, vielleicht auch anstatt dessen -, und lobt das Reinheitsgebot. Was für eine geniale Bezeichnung!

Mehr als ein Gesetz

Auch in unserer säkular geprägten Zeit assoziieren wir mit "Reinheit" mehr als einfach "sauber": Da denkt man an Unschuld, an moralische Überlegenheit. Und dann der Wortteil "Gebot": Das scheint – wie eben der Dekalog – von höchster Stelle zu kommen; so ein Gebot kommt uns ethisch höherstehend vor als jedes Gesetz.

"Deutsches Reinheitsgesetz" – hätte dieser Begriff irgendeinen Charme? Nein, auch wenn das Reinheitsgebot im Dritten Reich (und von manchen Brauern bis weit in die 1960er-Jahre) eben "Reinheitsgesetz" genannt wurde. Oder gar "Surrogatverbot" – unter diesem Unwort wurde die Diskussion um das Biersteuergesetz (das dem heutigen Reinheitsgebot reichsweite Geltung verschaffte) im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert geführt. Nicht sehr sexy, nicht sehr publikumswirksam.

Die bayrischen Brauer feiern sich mit einer Landesausstellung (ab 28. April in Aldersbach) und einer Wanderausstellung mit Fotos der "Wächter des Reinheitsgebots" von Sead Husic.
Sead husic

Aber das sind Gesetze ja nie. Und das war das Reinheitsgebot auch nicht gewesen, ehe die Bezeichnung in den 1920er-Jahren langsam in den Sprachgebrauch aufgenommen wurde – es war bis dahin nicht einmal unter Bierbrauern ein Thema gewesen.

Das wurde es erst in den letzten 50 Jahren. Da entdeckten die deutschen Brauereien nämlich, dass die Berufung auf die in Deutschland im späten Kaiserreich festgelegten Grundsätze der Bierbereitung eine formidable Grundlage abgeben könnten, den Biermarkt von unliebsamer Konkurrenz frei halten zu können: In vielen anderen Ländern – darunter auch Österreich – hatte sich damals nämlich die Praxis etabliert, beim Bierbrauen auch Rohstoffe zu verwenden, die der deutsche Gesetzgeber nicht im Bier haben will.

Dabei geht es um keineswegs bedenkliche Stoffe, sondern etwa um Reis – wenn man einen Teil der "Schüttung" (also des für das Brauen eingesetzten Gerstenmalzes) durch Reis ersetzt, erhält man schlankere, spritzigere Biere, die von vielen Konsumenten gegenüber den "All Malt Brews" bevorzugt werden. Es gilt umgekehrt auch für Biere wie irisches Stout, die ihren Geschmack roher Gerste oder gar Milchzucker verdanken.

Rein sei der Markt

Solches Bier also sollte als unrein gelten und in Deutschland verboten werden. Geht nicht, da sei das europäische Gemeinschaftsrecht vor. Mit Schreiben vom 12. Februar 1982 eröffnete die EG-Kommission in Sachen "Anwendung des Reinheitsgebotes für importierte Biere" ein "Vertragsverletzungsverfahren" gegen die Bundesrepublik Deutschland, gestützt auf Artikel 30 des EWG-Vertrages, der eine "Behinderung des freien Warenverkehrs" innerhalb der EU untersagt. Fünf Jahre später, am 12. März 1987, erkannte der Europäische Gerichtshof, dass man nach Deutschland durchaus auch Biere einführen dürfe, die nicht dem Reinheitsgebot entsprächen.

Die Aufregung unter den Brauern war groß, hatten sie doch die Jahre dazwischen dazu genutzt, die deutschen Biertrinker davon zu überzeugen, dass nur Bier nach dem Reinheitsgebot unbedenklich wäre – und viel Propaganda darauf verwendet, den Biertrinkern überhaupt erst einmal klarzumachen, was es denn mit diesem Gebot auf sich habe.

So meint jeder Biertrinker zu wissen, dass im Reinheitsgebot stünde, dass Bier nur aus Hopfen, Malz und Wasser gebraut werden dürfe. Steht aber gar nicht so in jener Urkunde vom 23. April 1516. Da wird Malz mit keinem Wort erwähnt. Vielmehr heißt es:

"Wir wöllen auch sonderlichen / das füran allenthalben in unsern Stetten / Märckthen / unn auf dem Lannde / zu kainem Pier / merer Stückh / dann allain Gersten / Hopffen / und Wasser / genommen und gepraucht sölle werden."

Es ging dem bayrischen Herzog Wilhelm IV. vor 500 Jahren nämlich darum, Gerste (die sich als Brotgetreide schlecht eignet) als Bierzutat verbindlich zu machen – und für dieses Bier einen verbindlichen Preis festzusetzen.

Gleichzeitig sollte die Verwendung von Brotgetreide (also vor allem Weizen und Roggen) für die Bierbrauerei verboten werden – zumindest "in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande". Das klingt zwar nach einer erschöpfenden Aufzählung – der schlaue Jurist Leonhart von Eck, der den Entwurf für die Verordnung geliefert hatte, hat mit der Formulierung aber ein juristisches Schlupfloch geschaffen.

Weizenbier-Monopol

Der bayrische Herzog schuf für seinen Hof ein Weizenbiermonopol. Das wurde dann auch umgehend (genauer: 1520) als "Weißbierregal" an die Familie der Degenberger verpachtet. Nach deren Aussterben 1602 fiel das ausschließliche Recht, Weizen zu verbrauen, an den Herzog zurück. Inzwischen war der bayerische Hof auf den Geschmack gekommen: Nun wurde Bayern (beginnend übrigens im heute oberösterreichischen Mattighofen) mit einem Netz von "weißen Hofbräuhäusern" überzogen, die dem Hof bis zur Zeit Napoleons gute Einkünfte sicherten.

Als Bayern ein Königreich von Napoleons Gnaden wurde, wurde das Weißbierbrauen zwar freigegeben, die Juristen beschäftigt es aber bis heute. Erst im Februar hat die Verbraucherzentrale in Baden-Württemberg die Erdinger Brauerei dazu gezwungen, den Hinweis "gebraut getreu dem bayerischen Reinheitsgebot von 1516" wegen möglicher Verbrauchertäuschung vom Weizen-Etikett wegzulassen.

Denn Weizenbier gab es gemäß diesem bayerischen Reinheitsgebot eben nicht. Weil sich aber viele Weißbierbrauer durchaus in die Tradition stellen wollten, droht nun eine Flut von Abmahnverfahren.

Überhaupt scheint das Jubiläumsjahr dazu anzuregen, dem Jubilar ans Bein zu pinkeln: Vor zwei Wochen wurde eine Untersuchung bekannt, der zufolge die (leider inzwischen omnipräsente) Agrarchemikalie Glyphosat, wenn auch in verschwindend kleiner Dosierung, in deutschen Markenbieren nachgewiesen werden kann.

Und immer mehr Stimmen – nicht zuletzt von Craft-Brauern – klagen darüber, dass das Reinheitsgebot zum "Einheitsgebot" verkommen sei: Dafür spräche, dass sechs von zehn deutschen Bieren in die (allerdings große und facettenreiche) Kategorie Pils fallen. Die Brauereiverbände halten dagegen, dass es ohnehin eine große Sortenvielfalt gebe und der Konsument viel Auswahl habe.

Bierflaschen im Technoseum Mannheim. Dort ist gerade die Ausstellung 'Bier. Braukunst und 500 Jahre deutsches Reinheitsgebot' zu sehen.

Da ist etwas dran. Allerdings hat das Reinheitsgebot die großen Brauereien nicht nur vor unliebsamer Konkurrenz aus dem Ausland, sondern auch vor einem Qualitätswettbewerb mit den kleinen und Mittelstandsbrauern beschützt. In den Augen der Konsumenten, denen jahrelang die Segnungen der Formel "Hopfen, Wasser, Malz und sonst nix" eingeredet wurden, gibt es ja kein Bier, das reiner als das andere ist – also taten sich auch die kleinen Brauer schwer damit, dem Publikum nahezubringen, dass ihre Biere besser als die vielbeworbenen Fernsehbiere oder die billigst angebotenen Diskontmarken seien. Dazu müsste man erst einmal kosten.

Fortschrittliche Technik

Aber das nützt auch nur bedingt: Gerade bei den Pilsbieren schmecken viele sehr ähnlich, weil nämlich die Brautechnik enorme Fortschritte gemacht hat. Nun kann man jeden vermeintlichen Fehlgeschmack, jedes, von dem einen oder anderen Verkoster vielleicht als störend empfundene, Aroma bei sorgsamer Arbeitsweise vermeiden. Verantwortlich dafür ist Professor Ludwig Narziß, dessen Forschungen zur Bierbereitung bahnbrechend waren und der in Weihenstephan mehrere Generationen von Braumeistern ausgebildet hat.

"Wächter des Reinheitsgebotes" – Bilder von Sead Husic.
Foto: Sead Husic

Leider wurde die moderne Brautechnik dazu genutzt, standardisierte Biere zu entwickeln, die zwar rein – aber auch rein gar nicht mehr unterscheidbar waren. Narziß selber, mit 90 Jahren immer noch innovationsfreudig, mahnt längst dazu, mutiger mit neuen Rezepten zu sein.

Tatsächlich lässt die aktuelle Fassung des Reinheitsgebots eine Vielzahl von Hopfensorten, Malzen und Hefen zu, mit denen man eine beachtliche Vielfalt erbrauen kann. Allerdings gibt es auch einige wenig verständliche Einschränkungen – wie etwa jene, dass die uralte Regel bezüglich der Verwendung von (vermälzter) Gerste streng auf untergärige Biere wie Lager, Pils und Märzen angewendet wird, während für obergärige Ales jedes Malz verwendet werden darf – Weizen-, Roggen- oder Haferbiere müssen daher mit einer anderen Hefe vergoren sein.

Die liberaleren Regelungen in Österreich lassen schon experimentierfreudige Mittelstandsbrauer wie Camba Bavaria darüber nachdenken, mit ihrer Produktion nach Österreich auszuwandern. Hierzulande wären sie sehr willkommen – und laut EU-Recht könnten die in Österreich gebrauten Biere dann unbeschränkt nach Deutschland exportiert werden.

Allerlei Zutaten

Dass bei uns etwa Weizenmalz für die schöne Trübung des untergärigen Zwicklbieres sorgen darf, ist nur einer der Vorzüge, um die einige der streng reglementierten deutschen Brauer ihre österreichischen Kollegen beneiden.

Manche würden auch gerne mit Gewürzen (etwa Koriander und Chili) und Kräutern (Wermut, aber auch das früher beliebte Bilsenkraut) experimentieren. Und sie können sich darauf berufen, dass es in der 500-jährigen Geschichte des Reinheitsgebots auch manche Abweichung von der reinen Lehre gegeben hat.

Schon 1551 erlaubte ein herzoglicher Erlass in Bayern die Verwendung von Koriander und Lorbeer. 1616, zum damals kaum gefeierten 100. Geburtstag des Reinheitsgebots, ergänzte die Neufassung der Landordnung die Zutatenliste um Kümmel, Salz und Wacholder.

Und jetzt? Für ewige Zeiten festgeschrieben ist wohl das vielgepriesene "älteste Lebensmittelgesetz der Welt" auch nicht. Sein offizieller Name lautet "vorläufiges Biergesetz 1993". Mal sehen, was das endgültige Gesetz bringt. (Conrad Seidl, 12.3.2016)