Der Stuckrad-Sound: kein nostalgisches Überbleibsel der späten 90er-Jahre.


Foto: Julia Zimmermann

Benjamin von Stuckrad-Barre, Panikherz, € 23,70 / 576 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016

cover: kiepenheuer & witsch

Wenn ein Freund ein Buch schreibt und man gebeten wird, dieses für eine Zeitung zu besprechen, dann resultiert das normalerweise in zwei Mechaniken: Entweder man versucht mit fadenscheinigen Ausreden aus der Nummer rauszukommen oder man schaltet den "Wir sind doch alle Familie"-Schalter ein und beginnt eine korrumpierte Hymne zu schreiben. In diesem Fall verhält es sich anders. Mit Panikherz ist Stuckrad-Barre das "most welcomed" Comeback gelungen, seit es im deutschen Literaturraum Comebacks gibt. Es hat Substanz, Humor, Tiefe, eine Wucht an Ehrlichkeit, einen rasanten, herzhaften Sound, kurzum: ein echter Wurf. Ganz ohne freundschaftliches Blurbgezwitscher. Lesen Sie dieses Buch.

So. Wollte nur sichergehen, falls Ihre Aufmerksamkeitsschwelle über einen Absatz nicht hinausreicht, Sie womöglich an ADHS leiden, ein Kokainproblem haben oder auch sonst glauben, the upcoming next Superscheiß mit dem popweisen Löffel gefressen zu haben. Ergo ein Stuckrad Barre der 90er-Jahre sind. Denn darum geht's in diesem rastlosen Text. Um die Suchtgeschichte eines aufsteigenden Literatursterns im faden Günther-Grass-Deutschland. Nach diesem Buch wird Stuckrad-Barre ein offenes für Sie sein. Denn er hat es sich etwas kosten lassen, das Comeback.

Warum erfinden? Diese Frage hat sich für Stuckrad nie gestellt. Bei ihm war immer alles "wahr" – und trotzdem fühlte es sich stets wie Fiktion an. Vielleicht weil der Blickwinkel des rastlosen Betrachters uns über 20 Jahre in den Bann gezogen hat. Niemand ist schonungsloser mit seiner Umwelt umgegangen als er. Schnell war man im Aburteilen und Scheißbefinden. Nur sich selbst stellte man selten zur Disposition. Das ist jetzt anders. In Panikherz stellt BvSB niemanden zur Disposition außer sich selbst. Das ist nicht nur sympathisch. Und vermutlich ein Zeichen von Erwachsenwerden. Es erzeugt auch einen Tiefgang, der diese Erzählung zu einem substanziellen Werk kristallisieren lässt, das noch in vielen Jahren seinen Glanz nicht verloren haben wird.

Stuckrad gilt nicht umsonst als lauteste Stimme seiner Generation. Hier beweist er erneut, dass der Stuckrad-Sound kein nostalgisches Überbleibsel der späten 90er-Jahre ist, sondern sich selbst neu erfindet, wie man es einem Noel Gallagher einmal wünschen würde. Der kommt auch vor in diesem Buch. So wie Nick Hornby, Harald Schmidt, Thomas Gottschalk, Sven Regener und ein Haufen anderer Berühmtheiten. Und natürlich Udo Lindenberg. Die eigentliche, zweite Hauptfigur des Buches.

Am 6. Jänner 2015 SMS von Stuckrad-Barre: "Mein Lieber, ich mache mich wohl morgen mit Udo auf gen LA – komm am 17.1. zurück". Aus geplanten elf Tagen wurde ein ganzes Jahr. Das ahnte zu diesem Zeitpunkt weder Stuckrad-Barre noch sein Lektor. Nur einer hatte offenbar wie immer einen Plan. Panikdampferkapitän Udo, der um die dunkle Phase wusste, in der sein Freund zu der Zeit feststeckte, und ihm kurzerhand riet, doch ein Weilchen länger in L. A. zu bleiben. Dafür muss man Lindenberg dankbar sein. Denn in Los Angeles hat Stuckrad das Buch begonnen, das er eigentlich seit langer Zeit schreiben wollte. Aber vermutlich braucht man Abstand, um über das Nächstgelegene zu schreiben. Hier geht es ans Eingemachte. Um Drogensucht und Entzug. Um Aufstieg und Fall. Um ich und die anderen, wobei die anderen im Taumel oft nur als Statisten wahrgenommen werden.

Ein Bekenntnistext

Ein Leben auf der Überholspur, selbst dann, wenn keiner mehr auf der Autobahn fährt. Da kann es schnell dunkel werden. Auch in Kalifornien. Ein Bekenntnistext. Ein Bußgang. Allerdings mit Humor. Und dann die Rettung. Udo Lindenberg und die Panikfamilie, die ihn immer wieder von der "Schleuderspur" holen. Besonders gelungen die Figur des Panikdoktors (Erinnerungen an Dr. Benway in Naked Lunch sind nicht verkehrt), bei der sich Udo und der Stuckimann, die beiden Nachtgewächse, regelmäßig "aufdüngen" lassen. Ja, man will selbst Teil dieses Dampfers sein, der sich für die Normalen da draußen nicht zuständig fühlt.

So beginnt das Buch passend mit einer saukomischen Szene bei der Immigration in Los Angeles, wo Lindenberg mit einer brennenden Zigarre so lange auf den Officer einredet ("von Beruf Udo Lindenberg, Udo, nicht Ufo, wobei so sicher könne man da nicht sein ..."), bis ihn dieser rauchend passieren lässt. Udo-Textzeilen begleiten uns durch Stuckrads Kindheit in der Pastorenfamilie, wo Lindenberg-Platten der einzige Luftzug von draußen sind. Udo ist immer dabei. Vom Aufbruch nach Hamburg bis zum Gagschreiberjob bei Harald Schmidt. Als der junge BvSB dann selbst die coolste Sau von Berlin bis nach München wird, ist der alte Held passé und wird auch gleich mal rezensionsmäßig zerlegt.

Männerfreundschaften, die mit Verrat beginnen ("Er hat sich gegen die Familie gestellt"), haben viel Potenzial. Denn man beginnt dort, wo sie normalerweise enden. Und so kommt irgendwann zusammen, was zusammengehört. Udo, der in den Nächten malend im Atlantic sitzt, vergibt dem Jungen, der nicht weiß, was er tut, und nimmt ihn unter seine Rock-'n'-Roll-Fittiche. Er wird ihm der Ersatzvater, den wir uns alle wünschten, der sich um die Dinge im Leben des Ziehsohnes kümmert, auf die es wirklich ankommt. Er ist der fröhliche Captain Ahab auf der Jagd nach dem Wal namens Leben. Keiner scheint die Route besser zu kennen als er. Mit Lindenberg verabschiedet sich Stuckrad aus der schnöden Welt der Berlin-Mitte-Aburteiler, Drinseinmüsser und Karrierevorgaukler.

Die beiden Freunde gehen durch die Welt wie Bud Spencer und Terrence Hill. Ihre Fäuste sind die Worte. Immer, wenn die beiden im Roman zusammen auftreten, schimmert eloquenter Udo-Weisheits-Gaga-Talk auf. Zwischen den Ausritten in diverse Entzugskliniken und Thomas-Gottschalk-Begegnungen freut man sich verlässlich auf Lindenberg, den Stuckrad auf ein Podest hebt, wo dieser wankend mit Hut als ewige Popstatuette stehenbleibt. Er zeigt Stuckrad seine Welt. Und diese besteht hauptsächlich aus Hotels, die sich der Altmeister weltweit in kürzester Zeit Untertan macht. Umso richtiger, dass die beiden zu Beginn des Buches im legendären Chateau Marmont absteigen.

Zerlabern und Wegschnupfen

Das kennt man aus "Somewhere" von Sofia Coppola. John Belushi ist dort gestorben, und Helmut Newton hat dort mit 70 noch einen letzten James-Dean-Unfall im Schritttempo hingelegt. Der passende Ort, um auf die Suche nach dem Sinn zu gehen. Dort, wo die kalifornische Sonne den Sinn längst zwischen unverbindlichem Lächeln und manischen Depressionen aufgetaut hat – zu einem Glas Wasser, dem Stuckrad schon seit zehn Jahren treu bleibt. Auch daran gibt es nichts schönzureden. Die Sucht sitzt einem in Nacken. Kein Tag vergeht, an dem einem nicht der potenzielle Exzess auflauert. Wo man sich nicht wünscht, sich selbst zu verlieren, in der Auslöschung des Zerlaberns und Wegschnupfens.

Lindenberg führt Stuckrad nicht nur ins Chateau Marmont, sondern er stößt ihn auch auf die Reise, für die es der überfällige Zeitpunkt scheint. Raincheck sagt man in England. Auch wenn es in Kalifornien so gut wie nie regnet. Zwischen Swimmingpool, Mentholzigaretten am Fenster und dem promiabgeklärten Hotelbetrieb (Courtney Loves Schulden betragen nur noch 55.000 Dollar) begegnet er nicht nur schonungslos sich selbst, sondern auch den eigenen Helden. Manchen auch real vor Ort wie Bret Easton Ellis, den er seinerzeit im Frankfurter Buchmessengewirr beim gemeinsamen Koksaufstellen kennengelernt hat.

Die Szenen mit Ellis sind Schlüsselmomente des Buches. Nicht nur, weil man erhellende Momentaufnahmen in die Sonnenfinsternis von Ellis Gemüt erhält, sondern weil Stuckrad aus ihm das macht, was Ellis seit den 80er-Jahren aus seinen "realen" Figuren macht. Er benützt sie zu seinen Zwecken. Der Held Ellis, dessen Held wiederum Elvis Costello war, und Stuckrad sind in ihrer Methode kongruent. Wie Ellis verwendet er stets die Klarnamen und suggeriert damit die Relevanz des tatsächlich Passierten. Nur, dass es bei Stuckrad mehr Herz hat. Wird es Fiktion, verliert es sofort. Siehe Lunar Park. Die ersten 50 Seiten Erlebnisbericht gehören zum Stärksten, was Ellis je geschrieben hat. Dann driftet er in eine Stephen-King-Persiflage ab, und man kann den Effekt des Echten direkt mit dem Erfundenen vergleichen.

In diese Falle tappt Stuckrad nicht. An Panikherz ist alles echt. Nichts scheint erfunden. Nur der außergewöhnliche Blick des Autors macht es zur Fiktion. Das ist vermutlich die gegenwärtigste und wahrhaftigste Form des Erzählens, die das Genre Roman zu bieten hat. Knausgard macht es. Auster macht es. Stuckrad hat es immer gemacht. Man fragt sich nur, was als Nächstes kommt? Und da beginnt man sich als Freund dann wieder Sorgen zu machen. (David Schalko, Album, 12.3.2016)