Nimmt man die eigene Meinung als Widerspruch zur öffentlichen Meinung wahr, hält man sie eher zurück.

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Gerade in sozialen Netzwerken wächst die Furcht vor sozialer Isolation.

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Wer sich in seiner Meinung bestärkt fühlt, dominiert. Dadurch entsteht ein Teufelskreis.

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Soziale Netzwerke und Foren erfreuen großer Beliebtheit, ist es doch für jeden möglich, seine eigene Meinung einem breiten Publikum kundzutun und zu präsentieren. Dies war vor dem Web 2.0 und vor Facebook, Twitter und Co. nur in beschränktem Ausmaß möglich.

Bei Usern ist jedoch die Rezeption von Meinungen ebenso beliebt wie die Äußerung selbiger. Klickt man auf einen Artikel, interessiert man sich auch meistens dafür, was andere Menschen zu diesem Thema zu sagen haben. Kommentarsektionen werden daher (idealerweise nach dem Lesen des Textes) aufgesucht, um ein Thema mit anderen zu diskutieren, über Missstände zu wettern oder einfach nur ein Meinungsbild einzuholen.

Gerade die Frage, ob soziale Medien und Zeitungsforen tatsächlich ein repräsentatives Stimmungsbild wiedergeben, ist jedoch umstritten.

Schweigespirale: Die Furcht vor sozialer Isolation

Dass die öffentliche Meinung nicht unbedingt mit den tatsächlichen Meinungen in den Köpfen der Menschen identisch ist, versucht das kommunikationswissenschaftliche Modell der Schweigespirale zu verdeutlichen. Laut dieser in den 1970er Jahren von Elisabeth Noelle-Neumann aufgestellten Theorie hängt die Bereitschaft eines Menschen, seine eigene Meinung zu äußern, davon ab, wie er das Meinungsklima einschätzt.

Empfindet er die eigene Meinung nämlich als Widerspruch zu einer von ihm wahrgenommenen vorherrschenden öffentlichen Meinung, hat er meistens mehr Bedenken, sie zu äußern. Diese Hemmungen können umso größer werden, je stärker die eigene Meinung vom scheinbaren Konsens abweicht. Heißt: Je mehr ich glaube, dass meine eigene Meinung kaum Zuspruch erhalten wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass ich sie für mich behalte.

Noelle-Neumann begründet die Theorie der Schweigespirale, die vor allem bei moralisch diskutablen Themen auftreten kann, vor allem mit der Furcht des Menschen vor sozialer Isolation. Aus Angst vor Sanktionen, wie etwa dem Ausgeschlossenwerden aus der Gesellschaft, wird möglicherweise die eigene Meinung verschwiegen.

Die Lauten dominieren

Aus diesem Grund scannen Menschen permanent ihre durch Medien und Mitmenschen beeinflusste Umwelt und analysieren die scheinbar vorherrschende öffentliche Meinung. Während diejenigen, die sich mit ihrer Meinung in der Minderheit sehen, aber schweigen, ist die Mitteilungsbereitschaft derer größer, die den Eindruck haben, dass ihre Meinung von der großen Mehrheit vertreten wird oder aber gerade im Aufschwung ist. Folglich fühlen sich die Schweigenden durch die verstärkte Wahrnehmung der "schreienden" Gegenpartei noch kleiner obwohl sie womöglich gar nicht die Minderheit darstellen und ein Teufelskreis nimmt seinen Lauf. So erklärt es die Schweigespirale und deswegen heißt sie so.

Das Modell der Schweigespirale ist äußerst umstritten und wurde immer wieder kritisiert. Bei der Entstehung der Theorie hatte sie logischerweise auch nichts mit dem Internet zu tun, sondern wurde vor allem auf Massenmedien wie Fernsehen und Zeitungen bezogen, die mit ihrer Selektion und Präsentation eines Bildes von öffentlicher Meinung nach diesem Modell Druck auf die Meinungsbildungsprozesse der Menschen ausüben können.

Schweigespirale online

Mit dem Internet hat sich die Situation allerdings völlig geändert. Die "Gatekeeper"-Funktion traditioneller Medien (Medien treffen für den Rezipienten eine gewisse Vorauswahl an Inhalten und Informationen) kann umgangen werden, die Menschen treffen auf neue Partizipations- und Kommunikationsmöglichkeiten und Meinungen können einem riesigen Publikum verkündet werden. Somit verteilt sich das einstige "Meinungsmonopol" der Massenmedien auf eine Vielzahl an Akteuren. Neu ist außerdem, dass normale Bürger, die möglicherweise nichts mit Medien zu tun haben, durch Kommunikation mit großer Reichweite die öffentliche Meinung beeinflussen können.

Eine andere neue Komponente des Internets ist die eigenverantwortliche Selektion von Informationen, die oftmals nicht rational genug erfolgt, sodass nur Inhalte akzeptiert werden, die in das eigene Weltbild passen. In Kombination mit der Schweigespirale kann dies äußerst problematische Folgen haben..

Dass sich das Modell der Schweigespirale durch das Internet nicht erledigt, sondern einfach gewandelt hat, versuchen Anne Schulz und Patrick Rössler in ihrem Buch "Schweigespirale Online: Die Theorie der öffentlichen Meinung und das Internet" zu zeigen. Darin ist zum Beispiel von kleineren Schweigespiralen und Teilöffentlichkeiten die Rede.

Anonymität und Identifizierbarkeit entscheidend

Unter anderem kommen Schulz und Rössler zu dem Ergebnis, dass vor allem in Kommunikationsräumen mit hoher Anonymität – das bedeutet, dass kaum Informationen über die Identität der anderen Gesprächsteilnehmer verfügbar sind – ein adaptiertes Verhalten erzwungen wird. Diese Teilöffentlichkeiten erscheinen viel homogener erscheinen und somit ist die individuelle Angst groß, mit einer konträren Aussage anzuecken.

Die Angst vor sozialer Isolation und vor Sanktionen ist auf der anderen Seite umso höher, je stärker die eigene Identifizierbarkeit ist – also je mehr Informationen anderen über einen selbst zur Verfügung stehen.

Ein Online-Kommunikationsraum mit hoher Anonymität und geringer Identifizierbarkeit wäre etwa ein Zeitungsforum (offline: ein Zugabteil). Ein Kommunikationsraum mit hoher Identifizierbarkeit und niedriger Anonymität etwa Facebook (offline: eine Seminargruppe). Ein Kommunikationsraum, in dem beide entscheidende Faktoren vorhanden sind, ist virtuell schwer zu finden. Im echten Leben würde dies auf einige Vortragssituationen zutreffen.

Schweigespirale in Zeitungsforen und sozialen Netzwerken

Das Modell der Schweigespirale ist sehr umstritten und es ist wohl unklar, ob und in welcher Intensität sie auftritt. Allerdings darf durchaus angenommen werden, dass auch in Zeitungsforen und sozialen Medien Meinungen oft zurückgehalten werden und somit Schauplätze kleinerer Schweigespiralen sind, die nicht mehr direkt mit großen Medien zu tun haben. Hier entsteht der Druck durch die Rezipienten selbst. Oft entstehen dadurch auch sogenannte (durch Algorithmen begünstigte) Meinungsblasen.

Denn auch virtuell möchte man nicht ausgeschlossen werden. Ausgenommen davon sind vielleicht noch Trolle, denen gerade dieser soziale Ausschluss die befriedigende Aufmerksamkeit bringt. Das Problem ist jedoch, dass man andere – teilweise radikale – Meinungen viel zu sehr erduldet und unkommentiert stehen lässt, weil man vielleicht denkt, dass schon längst jemand darauf zu sprechen gekommen wäre, würde dieser Ausgangskommentar tatsächlich eine kaum vertretene Meinung widerspiegeln. Dadurch wird man jedoch selbst Teil der Spirale und löst eventuell ähnliche Gedanken bei anderen Usern aus.

Eine Studie hat herausgefunden, dass man in sozialen Netzwerken sogar noch mehr Bedenken hat, die eigene Meinung zu diskutablen Themen zu äußern als im echten Leben.

Gegen die Spirale ankämpfen

Ein Problem sind hier vor allem Hasspostings. Diese finden sich zum Beispiel auf Facebook in Massen, sammeln oftmals mehr bestätigende Antworten als Gegenargumente ein und versuchen durch virtuelle Präsenz öffentliche Meinung zu prägen. Sie versuchen ein "Wir sind das Volk" in den digitalen Raum zu brüllen, um andere zu beeinflussen.

Dass diese oftmals unkommentiert stehen gelassen werden, beruht darauf, dass es eine mühsame Arbeit ist, gegen diese Hasspostings anzukämpfen. Es ist schwierig, mit der Postingrate motivierter Hassposter mitzuhalten. Einerseits geben viele engagierte Gegenposter schnell auf, wenn sie sehen, dass es ohnehin keinen Sinn hat. Andererseits verziehen sich diese Hetzer gerne in Räume, die nicht mehr leicht auffindbar oder nicht frei zugänglich sind.

"Nasty Effect"

Diesen Hasspostings den Raum zu überlassen und sie unkommentiert stehen zu lassen, ist jedoch nicht unproblematisch. Nicht nur könnte eine Schweigespirale einsetzen, auch wurde in einer Studie der sogenannte "Nasty Effect" nachgewiesen: eine Versuchsgruppe, die mit aggressiven Kommentaren unter einem Blogpost konfrontiert wurde, bewertete Inhalt und Argumente des Textes anders als es eine Versuchsgruppe tat, die nur neutrale Kommentare zu sehen bekamen.

Aggressive Hasskommentare könnten daher nicht nur die Äußerung anderer Meinungen verhindern, sondern auch bestehende Meinungen beeinflussen. Genau deswegen sollten sie ernst genommen werden. So sieht Journalistin Ingrid Brodnig etwa auch ein Problem darin, dass Zeitungen ihre moderierten Foren bei heiklen Themen einfach schließen. Dadurch würde man die Diskussionshoheit nur auf Facebook (das mit Hasspostings ja größere Probleme hat) verlagern und das Problem ausblenden, anstatt ordentlich moderierte Diskussionsräume zu schaffen.

Meinungsvielfalt und konstruktive Diskussionen sollten das Ziel sein

Das Modell der Schweigespirale sollte also im Hinterkopf behalten werden. Auch im Internet finden sich nicht unbedingt immer nur repräsentative Meinungsbilder und vielleicht täte es gut, etwas mehr gegen diejenigen anzuschreiben, die ihre Ansichten mit allen Mitteln als öffentliche Meinung postulieren wollen.

Denn die Präsenz gewisser Stimmen spricht nicht gegen die Existenz einer Vielfalt von Stimmen, die sich zum Teil sicher einer größeren Anhängerschaft erfreuen. Möglicherweise werden sie einfach nur weggebrüllt. (Florian Schmidt, 11.3.2016)