Gespaltene Gesellschaft: Zuerst dominierten noch die Willkommensrufe

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Die Übergriffe in Köln haben "das Ende der idealistischen Phase der Flüchtlingsaufnahme markiert", sagt der deutsche Soziologe Heinz Bude

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"Viele haben die Euphorie des Willkommens mit zusammengebissenen Zähnen verfolgt", glaubt Heinz Bude

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STANDARD: Krieg und Terror, Krise und Flüchtlinge – die Stimmung in Europa ist am Boden. Geht es noch schlimmer?

Bude: Die Stimmung ist im Keller, weil man nicht weiß, wie all diese irgendwie zusammenhängenden Herausforderungen gelöst werden können. Es herrscht eine Stimmung der generellen Gereiztheit.

STANDARD: Die Unsicherheit zieht uns nach unten?

Bude: Ja, da ist die Sorge, dass Europa, so wie wir es bisher mit Sommerferien in Griechenland und Winterferien in den Alpen kannten, zerfällt. Dazu kommt, dass sich Spaltungsbewegungen in Gesellschaften selbst zeigen. Für die Stimmung besonders relevant ist die Spaltung in der Mitte der Gesellschaft.

Die Mehrheitsklasse, die in sich selbst weitgehend saturiert ist und mit einer gewissen Unbekümmertheit oder mit ehrlichem Erschrecken auf einen Teil schaut, der den Anschluss verloren hat, zerfällt vor unserem Auge. Das war die Konstellation noch vor zehn Jahren. Heute ist das anders. Für viele ist nicht mehr klar, in welchem Teil der gesellschaftlichen Mitte sie sich noch befinden, und noch unklarer ist, wo die eigenen Kinder landen werden.

STANDARD: Gibt es also eine Angst abzusacken?

Bude: Die Angehörigen der mittleren Lagen der Gesellschaft können sich nicht mehr so recht vorstellen, dass ihre Kinder und Kindeskinder den sozialen Status erreichen werden, den sie selbst einnehmen – geschweige denn verbessern können. Dabei ist die ökonomische Lage der Gesellschaft in Deutschland oder Österreich gar nicht so schlecht.

STANDARD: Miese Stimmung braucht also keine auf Fakten basierende Grundlage?

Bude: Es braucht zumindest keine Grundlage, die wir mit Kategorien wie Wirtschaftswachstum oder Arbeitslosenprognose beschreiben können. Wir haben es mit einer Zukunftsverzagtheit zu tun. Deshalb hat es auch wenig Sinn, den Leuten zu sagen: Schaut mal, es ist doch im Prinzip alles in Ordnung. Das beruhigt nicht, denn es wird entgegnet: Jetzt vielleicht, aber was bringt die Zukunft?

STANDARD: War die von Ihnen einmal beschriebene Bildungspanik – das eigene Kind könnte etwa durch zu viele Migranten in der Schule benachteiligt werden – eine Ankündigung für die heutige Stimmung?

Bude: Ja. Diese Stimmung der Gereiztheit macht sich für die Mittelklassen vor allem am Bildungsthema fest. Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits wird immer unklarer, welche Kompetenzen man braucht, um in einer sich rasant verändernden Weltgesellschaft in der Zukunft seinen Platz behaupten zu können. Früher war klar: Wer Matura hat, wird auf einer halbwegs guten Position landen. Da gab es um die zehn Prozent eines Jahrganges mit Matura. Heute sind es vierzig bis fünfzig Prozent.

Damit wird deutlich, dass man mehr haben muss. Soll man Chinesisch lernen? Oder soll ich eine musische Bildung mit Mathematik kombinieren? Zweitens grassiert eine Art sozialmoralische Ansteckungsangst in den mittleren Milieus unserer Gesellschaft. Man hat nicht das Gefühl, dass die Kinder anderer Schichten oder jene von Migranten dümmer sind. Man fürchtet vielmehr eine andere Werthaltung oder dass die Kinder auf falsche Gedanken kommen. Der Vorwurf lautet: Deren Eltern haben nicht dieselbe Bildungsbestrebtheit.

STANDARD: Hat die negative Stimmung gegenüber Ausländern etwas mit dem Bildungsstand zu tun?

Bude: Stimmungen laufen quer über die Milieus hinweg. Sie bringen sogar innerhalb der Milieus Polarisierungen hervor. An der Flüchtlingsfrage verkrachen sich Leute, die sich Jahre kennen und den gleichen Bildungsstand haben, weil sie völlig anderer Auffassung sind.

STANDARD: Anfangs hörte man die Willkommensrufer, jetzt dominieren die Verhinderer: Wie reagiert die schweigende Mehrheit?

Bude: Viele haben die Euphorie des Willkommens mit zusammengebissenen Zähnen verfolgt. Die haben sich in die Schweigespirale verzogen. Seit der letzten Silvesternacht von Köln wächst in Deutschland das Unbehagen. Jetzt ist für die aus der Schweigespirale ein Ventil geöffnet.

STANDARD: Werden die Übergriffe in Köln in der Silvesternacht als Zeitpunkt des Stimmungsumschwungs in die Geschichte eingehen?

Bude: Ja. Das ist ein Stimmungsumbruch, der das Ende der idealistischen Phase der Flüchtlingsaufnahme markiert hat. Das Euphorische ist weg. Die Medien, Politiker, alle schauen in die sozialen Netze und lesen mit Verstörung, was da geschrieben wird. Man glaubt, sich mit dem Irrsinn beschäftigen zu müssen, und verstärkt ihn dadurch noch. Daher fühlen sich diejenigen, die in der Schweigespirale waren, geradezu aufgefordert, sich zu rühren.

STANDARD: Das passiert gerade?

Bude: Genau. An diesem Thema kann man in einem Brennglas studieren, was es bedeutet, wenn die Zukunftsbedürftigkeit nicht befriedigt wird. In Österreich hat man sich dazu entschlossen, die Grenzen zu schließen, um dadurch eine gewisse Zukunftssicherheit herzustellen. Nur jeder weiß, dass es so nicht funktionieren wird, weil in Griechenland die Wanne vollläuft.

STANDARD: Aber viele werden sagen: Hauptsache nicht bei uns!

Bude: Richtig. Sie wissen aber gleichzeitig, dass sich das auf Dauer nicht halten lässt. Das ist Gift für die Stimmung. Man hat Angst davor, dass das Land doch von Flüchtlingen überströmt wird.

STANDARD: Sie nennen als Triebfeder die sozialen Netze. Wieso fallen dort so rasch die Hemmungen?

Bude: Sie können nicht wie bei Gesicht-zu-Gesicht-Kommmunikation zur Verantwortung gezogen werden. Das ist eine ungeheure Verführbarkeit. Zudem schlägt die Stunde der Verschwörungstheoretiker, die aus frei zugänglichen Archiven Belege für alles Mögliche hervorzaubern.

STANDARD: Wer kann die Stimmung heben?

Bude: Dafür braucht es eine innere Neuaufstellung der Zivilgesellschaft. Es wäre zu einfach zu sagen, die Politik sei gefordert. Ich sehe das als positive Seite der Entwicklung im Augenblick: Wir sind darauf angewiesen, uns mit unseren Freunden, Kindern oder Enkeln darauf zu verständigen, wie eine lebbare Zukunft aussehen soll. Nicht, wie wir uns als Einzelne möglichst schlau zu retten versuchen. Das war so die Idee der Nullerjahre unseres Jahrhunderts. Diese Idee ist gerade an ihre Grenzen gestoßen. Bei den derzeitigen Problemen sind wir einfach darauf angewiesen, uns zu einigen, wie wir eine Lösung finden.

STANDARD:Sehen Sie schon eine Veränderung?

Bude: Ja. Interessant finde ich, dass jener US-Präsidentschaftskandidat, der diese Stimmung aufnimmt, nämlicher Bernie Sanders, so großen Zuspruch bei der Jugend hat. Seine Botschaft lautet: "a future to believe in". Das ist ein Fingerzeig für eine andere Zukunft.

STANDARD: Dem widerspricht Europas Asylpolitik, die allerorts mit Restriktion und Strafen reagiert.

Bude: Stimmt. So wird es aber nicht funktionieren. Österreich kann sich nicht alleine retten. Die Leute haben ein Bedürfnis nach einer erwartbaren Zukunft, das aber nicht so ohne weiteres befriedigt werden kann. Man muss aber Erwartbarkeiten stiften. Es hilft nichts anderes: Wir müssen miteinander reden. Franklin D. Roosevelt hat als US-amerikanischer Präsident 1933 den wunderbaren Satz gesagt: "Es gibt Gründe, Angst in einer bestimmten Situation zu haben. Das Einzige, was die Politik tun kann, ist den Leuten die Angst vor der Angst zu nehmen."

STANDARD: Gilt dies auch in der Frage des Islam? Kaum einer kennt die Religion geschweige denn den Koran, dennoch wird allerorts geredet und interpretiert. Ist das nur Sorge oder gefährliches Zündeln?

Bude: Der Islam erscheint, je mehr man sich mit der Sache beschäftigt, als ein weites Feld. Warum bekämpfen sich Schiiten und Sunniten? Was unterscheidet türkischstämmige von arabischstämmigen Muslimen? Welche Rolle spielt das angeschlagene Saudi-Arabien, welche der erstarkte Iran? Das sind alles ziemlich realistische Fragen. Dahinter steht die Hauptfrage, wie sich der europäische Islam entwickelt.

STANDARD: Sie sprechen in Ihrem Buch aber auch vom "Gesetz der sozialen Zeit, aus dem die Etablierten die Berechtigung ableiten, dass sie die Zugezogenen wie Außenseiter behandeln können".

Bude: Die Idee der sozialen Zeit besagt: Die zuerst da waren, sind jene, die Gesetze und Regeln definieren. Die anderen haben sich hinten anzustellen. Ein Beispiel dafür ist der Palästina-Konflikt. Da geht es doch immer um die Frage, wer zuerst da war. Die Aufgabe der Etablierten ist es aber, eine Übereinkunft mit den Zuwanderern zu finden. Die Frage lautet: Was dürfen die Etablierten den Neuen zumuten? Oder um einen Begriff der katholischen Soziallehre zu verwenden: Was ist die gerechte Anstrengung? Es wird jedenfalls nur funktionieren, wenn die Etablierten und die Außenseiter eine lebbare Machtbalance finden.

STANDARD: Die Arme hält derzeit kaum jemand auf.

Bude: Ach, betrachten wir es nüchtern: Es ist eine grundsätzlich andere Situation als in den 1990er-Jahren, als auch Asylheime gebrannt haben, aber Leute zu Tode kamen. Das ist bis jetzt nicht der Fall. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland – und ich nehme an auch in Österreich – will nicht fremdenfeindlich erscheinen. Aber das ist eben die Gefahr, wenn man nur ins Netz schaut oder auf ein paar Leute, die sich vor einen Bus stellen und sich vor lauer Selbsterregung nicht zu zügeln vermögen. Nicht nur gegen die Flüchtlinge im Bus, sondern immer auch gegen das verhasste Establishment skandieren sie: "Wir sind das Volk." (Peter Mayr, 12.3.2016)