Eine Kinderzeichnung, die während einer Therapie im Verein Hemayat angefertigt wurde. "Wir müssen vor allem die Bezugspersonen der Kinder schützen", sagt Preitler.

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Barbara Preitler arbeitet mit Kriegsflüchtlingen.

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STANDARD: Mit welchen psychischen Beschwerden kämpfen die Flüchtlinge, die derzeit nach Österreich kommen?

Preitler: Wir erleben Menschen, die doppelt traumatisiert sind: von der Flucht und von dem, was davor passiert ist. Viele haben in ihren Herkunftsländern Kriegshandlungen erlebt. Auch die Flucht selbst hat viele traumatisiert – vor allem die als lebensgefährlich erlebte Überfahrt mit unzureichenden Booten und die ständige Gefahr der Entführung. Die Flüchtenden wissen ja, dass laufend Menschen ertrinken und entführt werden. Die Folge ist das, was wir als posttraumatische Belastung beschreiben. Wobei die Diagnose hinkt, weil die Traumatisierung nicht vorbei ist. Das wäre der Fall, wenn die Menschen an einem sicheren Ort langfristig verweilen können. Asyl auf Zeit ist sicher nicht die richtige Lösung, denn da wissen die Flüchtlinge nicht, ob sie in ihr Land zurückmüssen. In der therapeutischen Arbeit sind posttraumatische Situationen schon fast eine Idylle im Vergleich zu anhaltenden Traumatisierungen.

STANDARD: Welchen Einfluss haben individuelle Persönlichkeitsfaktoren auf das Erleben und Verarbeiten der Flucht?

Preitler: Ob etwas zu einer psychischen Verletzung führt, hängt davon ab, wie es eine Person individuell erlebt. Es macht einen Unterschied, ob ein Mensch die Chance hat, sich gegen etwas zu wehren, oder ob es ungeschützt aufprallt. Es gibt Situationen auf der Flucht, die für 90 Prozent traumatisch sind, aber zehn Prozent schaffen es, sich zu schützen. Ob jemand schwere posttraumatische Belastungen entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. Der wichtigste ist, dass die Leute danach in Sicherheit sind.

STANDARD: Was passiert mit der Psyche von Menschen, wenn sie Traumata nicht aufarbeiten können?

Preitler: Sie leiden an wiederkehrenden Erinnerungen, haben Albträume. Auch die Vermeidung von Erinnerungen kann eine Folge sein, das kann so weit gehen, dass man ganze Lebensabschnitte verdrängt. Ein weiteres Symptom sind Lern- und Merkschwierigkeiten. Das steht dem Spracherwerb im Wege. Dazu kommen Schreckhaftigkeit und Aufgeregtheit. Viele dieser Menschen brauchen lange, um sich nach einer Aufregung zu beruhigen. Auch permanente negative Gefühle sind mögliche Symptome, auch Depressionen und Suizidgedanken. Trauer ist ein Thema: Flüchtlinge haben enorm viel verloren – Trauer ist da die normale Reaktion.

STANDARD: Kann auch Gewalt ein Versuch sein, Belastungen zu bewältigen und verdrängte Gefühle auszudrücken?

Preitler: Ja, durchaus. Die Diagnose ist nicht einfach, Aggression ist aber ganz klar ein Symptom. Wir sind so gestrickt: Werde ich geschlagen, will ich zurückschlagen. Diese Menschen haben viele Schläge eingesteckt und konnten sich nicht wehren, es gab keine Ausgleichsmöglichkeit. Jede Kultur kennt Gerichtsbarkeit. Wenn mir all diese Dinge zustoßen, die diese Menschen erlebt haben, dann erwarte ich mir, dass eine Instanz Gerechtigkeit herzustellen versucht – das passiert aber nicht. Es gibt keine Gerichte für Flüchtlinge, die alles verloren haben. Wohin also mit dem Wunsch nach Gerechtigkeit? Natürlich hat jeder die Wahl, aus der Gewaltspirale auszusteigen. Aber man sollte anerkennen, dass diese Menschen einen Grund haben, aggressiv zu sein. Man muss verstehen, wie Gewalt entsteht, um gewaltpräventiv arbeiten zu können.

STANDARD: Sie haben den Spracherwerb erwähnt. Wie gut funktioniert Traumatherapie mithilfe von Dolmetschern?

Preitler: Ich sehe die Vor- und Nachteile der Einbeziehung von Dolmetschern ausgewogen. Oft ist es gut, wenn jemand dabei ist, der die Herkunftsregion kulturell und sozial kennt. Gleichzeitig ist es eine kompliziertere Situation. Die Faustregel ist: Es soll dem Klienten nach der Sitzung besser gehen und dem Dolmetscher nicht schlechter. Als Therapeutin habe ich die Verantwortung für das gesamte Setting – nicht nur für den psychischen Prozess beim Klienten.

STANDARD: Wie viele Therapiesitzungen braucht ein traumatisierter Mensch?

Preitler: Das kann man schwer sagen, da Traumatisierungen sehr unterschiedlich sind. Manche Menschen kommen nach einer Weile wieder zu Behandlungen. Etwa Kurden, die seit 20 Jahren in Österreich leben und deren Heimatregionen jetzt unter Beschuss sind. Oder Bosnier, die durch die aktuellen Bilder wieder traumatisiert werden. Traumata sind ein Leben lang wirksam.

STANDARD: Unter den Flüchtlingen sind viele Kinder. Positive Bindungserfahrungen und das Gefühl von Sicherheit in der frühen Kindheit sind eine wichtige Basis für psychische Gesundheit. Was kann Psychotherapie für Kinder tun, die Flucht und Gewalt erlebt haben?

Preitler: Kinder brauchen stabile Beziehungen, wir müssen also vor allem ihre Bezugspersonen schützen. Wenn es der Mutter oder dem Vater gelingt, schützend zwischen dem Kind und Außeneinflüssen zu stehen, dann sind Kinder sicher. Wenn die Eltern nicht mehr adäquat reagieren, ist auch das Kind nicht geschützt. Wir unterstützen in der therapeutischen Arbeit die Eltern dabei, "good enough" zu sein. Dieses Konzept geht davon aus, dass niemand perfekt ist und fehlerfrei erzieht. Manchmal reicht es aber aus, dass Eltern in der Lage sind, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen, es aber nicht übermäßig behüten. Traumatisierte Eltern neigen zur Überbehütung.

STANDARD: Wie wirkt sich das österreichische Asylsystem auf die Dynamik in Flüchtlingsfamilien aus?

Preitler: Es trägt dazu bei, dass sich die Rollen innerhalb der Familie verdrehen und die Kinder die Eltern quasi an der Hand nehmen. Denn sobald eine Familie ankommt, sind die Kinder schnell dort, wo sie sein sollten – in Schule und Kindergarten. Sie lernen die Sprache und die Kultur, weil sie mit anderen Kindern zusammen sind. Auch Mütter können ihre Rolle in der Familie weitgehend beibehalten, die Väter aber können nichts tun. Da kehren sich familiäre Hierarchien um.

STANDARD: Wie gehen Männer aus patriarchal geprägten Gesellschaften mit dem Verlust der Ernährerrolle um?

Preitler: Manche Väter freuen sich, dass sie endlich auch ihr neugeborenes Baby in Händen halten dürfen. Es gibt die Väter, die ihre Kinder plötzlich selbstverständlich in den Kindergarten bringen. Manche genießen das. Auf der anderen Seite herrscht bei vielen Männern große Hilflosigkeit, weil sie als Asylwerber nicht arbeiten dürfen. (Lisa Mayr, David Tiefenthaler, 17.3.2016)