Schritt für Schritt in ein Panorama des Grauens: Geza Röhrig in "Son of Saul".

Foto: Thimfilm

Trailer.

Thimfilm Filmverleih

Wien – Zum Empörendsten am Holocaust zählt, dass die Opfer zu Handlangern ihrer eigenen Vernichtung gemacht wurden. "Die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen", schreibt Primo Levi. Genau davon handelt Son of Saul, und doch lässt er der Empörung ebenso wenig Raum wie der Trauer. Letzteres ist ein besonderes Paradox, da der Film ja vorführt, wie richtige Trauerarbeit auszusehen hat. "Wir schaufeln ein Grab in den Lüften", heißt es in Paul Celans Gedicht Todesfuge. Saul hingegen versucht mit aller Kraft, seinem Sohn ein Grab in der Erde zu schaufeln. Ob dieser tatsächlich sein Sohn ist, bleibt dabei offen. Umso leichter lässt sich der nackte Körper, den Saul aus der Gaskammer zieht und später an sich nimmt, als Stellvertreter für die anderen, unbestatteten Toten verstehen.

Saul Ausländer ist Mitglied eines der todgeweihten Son- derkommandos in Auschwitz-Birkenau. So bedeutungsschwer wie sein Name ist auch, was er tun wird. Es ist der 7. Oktober 1944, ein Schabbat. Während die anderen Mitglieder inmitten der Vernichtungsarbeit ihren verzweifelten Aufstand vorbereiten, versucht Saul, den Leichnam des Buben zunächst vor dem Seziertisch und dann vor der Einäscherung zu retten. Aus unerfindlichen Gründen glaubt er, dafür auch noch einen Rabbi zu brauchen. Ein Kaddisch zu sprechen, wie es ihm andere anraten, würde den Film ja seiner narrativen Motivation berauben, Saul auf eine zweitägige Reise durch die Hölle auf Erden zu schicken, auf der er von einem Sonderkommando ins nächste wechselt, sodass sich für die Zuschauer trotz verengter Perspektive Schritt für Schritt das volle Panorama des Grauens entfaltet.

Tragischer Held

Saul ist überall. Er führt die ankommenden Juden in den Tod, er räumt und reinigt die Gaskammer von den Leichen, vom Blut und von Exkrementen, verbrennt die Toten, schaufelt die Asche in den Fluss. Er ist sogar dabei, als die einzigen vier unmittelbaren Fotos vom Massenmord in den Vernichtungslagern aufgenommen werden, die bis heute aufgetaucht sind. Jene Bilder trotz allem, über die Georges Didi-Huberman sein gleichnamiges Buch geschrieben hat. Saul ist der fiktive Dritte im Bunde, der die anderen beiden und ihren Fotoapparat vor der Entdeckung durch die SS bewahrt.

Die Kamera folgt Saul auf Schritt und Tritt, aus einer Nähe, die sein Gesicht ins Zentrum und den Rest des Geschehens mit wenigen Ausnahmen an die unscharfen Zonen am Bildrand rückt. Auf der Tonspur bleibt hingegen nichts der Vorstellungskraft überlassen. Diese hyperrealistische Mischung aus Abstraktion und Konkretion ist jedoch nicht jene Verbindung von Bildern und Tönen, die Jean-Luc Godard zufolge ein progressives Kino auszeichnet. Umso weniger, als die ungewohnte Form die allzu konventionelle Dramaturgie des Films unterstützt, die Saul zum tragischen Helden macht. Die akribisch recherchierten und rekonstruierten Details täuschen darüber hinweg, wie wenig plausibel der Plot des Films ist und wie unwahrscheinlich die Verknüpfung der einzeln betrachtet so wahrscheinlichen Szenen.

Giorgio Agamben hat es für unmöglich gehalten, nach Auschwitz in der Ethik weiterhin das tragische Paradigma zu verwenden. Doch Saul ist der moderne Bruder der antiken Antigone. Sein Wunsch nach einer Bestattung der Toten ist als menschlicher Akt schlechthin verständlich, diesen einen Toten zu bestatten grenzt jedoch an Irrsinn. "Du hast die Lebenden für die Toten verraten", sagt ein anderes Mitglied des Sonderkommandos zu Saul. Der Film legitimiert diesen Verrat. Nach der Rettung der Lebenden in Schindler's List geht es nun um jene der Toten – der Holocaust wird zur spirituellen Erfahrung.

Reste von Humanität

Son of Saul ist eine Zumutung. Nicht weil er sein Publikum einer Serie extremer Bilder und Töne des Grauens aussetzt. Das tun andere Filme auch, und das ist das Mindeste, das man aus sicherer Distanz aushalten muss. Umso mehr, wenn nach 107 Minuten alles vorbei ist. Hinzusehen und hinzuhören sind wir den Opfern schuldig, die das Grauen erlebt und nur in den wenigsten Fällen überlebt haben. Nein, dieser Film ist eine Zumutung, weil er sein Publikum dazu nötigt, ein Urteil zu fällen, auf das es kein Recht hat.

Niemand sei dazu berechtigt, über die Mitglieder der Sonderkommandos Gericht zu sitzen, schreibt Levi, "weder jemand, der die Erfahrung des Lagers durchgemacht hat, geschweige denn jemand, der eine solche Erfahrung nicht durchgemacht hat". Doch hier ist es fast unmöglich, kein moralisches Urteil zu fällen. Identifiziert man sich mit Saul, setzt man die anderen Mitglieder des Sonderkommandos automatisch ins Unrecht. Will man deren Handlungen und Unterlassungen auch nur im Ansatz verstehen, kommt man nicht umhin, Saul zu verurteilen und damit zugleich die Reste von Humanität zu verwerfen, denen diese – wenn überhaupt – nur noch in ihrem Herzen jenen Platz einräumen können, der in ihrem Tun fehlt.

Bleibt die Möglichkeit, das Dilemma und mit ihm die ganze Geschichte als Fiktion abzutun. Und das ist so ziemlich das Schlechteste, das ein Film über den Holocaust bewirken kann. (Ingo Zechner, 18.3.2016)