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Über Natascha Kampusch wurde ein neues Buch geschrieben.

Foto: AP/Markus Leodolter

Wien/Hamburg – Peter Reichard ist einer der wenigen, die die bisher unter Verschluss gehaltenen Amateuraufnahmen Wolfgang Priklopils zu Gesicht bekamen. Für sein Buch "Der Entführungsfall Natascha Kampusch: Die ganze beschämende Wahrheit" konnte der Hamburger Autor und Exkriminalist alle Videokassetten, die der Entführer in den acht Jahren der Gefangenschaft seines Opfers bespielt hatte, sichten.

Das Buch droht jedoch zu einem Streitfall zu werden. Natascha Kampuschs Rechtsvertreter Gerald Ganzger erklärte gegenüber den Zeitungen "Presse" und "Kurier", seine Mandantin habe keine Zustimmung dazu gegeben.

Nachdem die Videos 2006 im Haus von Priklopil von der Polizei sichergestellt und vom Gericht ausgewertet wurden, wurden sie Kampusch überreicht, erklärte der Anwalt. Wie Reichard an die Bänder gelang, ist nach Angaben Ganzgers unklar. "Er (Reichard, Anm.) weiß ja, wie heikel das mit den Videos ist", meinte Ganzger, da sich der ehemalige Kriminalbeamte auch privat mit Kampusch regelmäßig getroffen hat.

Allerdings habe Natascha Kampusch nie ihre Zustimmung zu diesem Buch gegeben, "weder schriftlich noch mündlich", meinte Ganzger zur APA. Bei den privaten Treffen habe Reichard nie erwähnt, dass er ein Buch schreibt. Erst im Dezember 2015 habe er ihr bei einer Zusammenkunft in Wien ein 400-seitiges Manuskript vorgelegt. Laut Ganzger ist Kampusch mit dem Lesen des Manuskripts überfordert gewesen, habe nur ein wenig geblättert und dann zum Autor gesagt: "Warum tun Sie das? Ich will das nicht." Laut Ganzger hat der Autor Natascha Kampuschs "Vertrauen missbraucht".

Protokolle

"Die Inhalte der Protokolle widerlegen alle Verschwörungstheoretiker, die sich über den Fall hergemacht haben. Sie beweisen, dass ihre Mutmaßungen über Komplizen und Pornos nichts als Fantasien sind", schreibt "Welt"-Herausgeber Stefan Aust im Vorwort des am Montag erschienenen Buches. Die deutsche Tageszeitung druckte vorab Dialogprotokolle aus den Filmen, die laut Aust bestätigen, "dass Natascha Kampusch über die Jahre ihrer Gefangenschaft immer die Wahrheit gesagt hat". Die Passagen wurden nach Angaben der Herausgeber mit Kampuschs Einverständnis veröffentlicht.

Turnübungen bis zur Erschöpfung

Nachdem die 18-Jährige 2006 aus ihrem Kellerverlies fliehen konnte, stießen Polizisten in Priklopils Einfamilienhaus im Bezirk Gänserndorf auf eine Canon-MV5-Kamera und mehrere Videokassetten. Als das Mädchen in einer Aufnahme auftauchte, übergaben sie das Material der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter. Die kamen laut dem Zeitungsbericht zu dem Schluss, "es habe sich um Familienszenen gehandelt. Es sei nichts Belastendes darauf zu sehen gewesen."

Die fix montierte Kamera habe immer Innenaufnahmen festgehalten, Geburtstage eine Weihnachtsfeier, Ostern. Eine kurze Szene zeige Turnübungen als Teil eines abgründigen Alltags: "Wie ein KZ-Arzt vermaß [Priklopil] akkurat jedes einzelne Körperteil seiner spindeldürren Gefangenen, um sie hinterher als zu ‘fett’ zu beschimpfen", schreibt Reichard. Wie bei "Wehrsportübungen von Neonazis" habe er das Mädchen so lange über die Stiege gescheucht, bis ihr fast die Beine versagten.

"Demütig gehorchen"

Priklopil ließ sich von seiner "Sklavin" als "Maestro" und "Gebieter" bezeichnen. "Demütig gehorchen. Immer lieb sein. Immer lieb gehorchen. Demütig sein", hört man ihn, der die Möglichkeit einer Flucht mit Essensentzug und Schlägen zu mindern versucht, sagen. Sexualkontakte zeichnete Priklopil laut Reichard nicht auf; auch wenn man in diesem Fall kaum von Einverständnis sprechen kann, habe er Kampusch nicht vergewaltigt.

Reichard zitiert auch die Banalitäten einer Küchenszene: "Und no a Stangl Rhabarber, und nochstopfn", sagt der Entführer und kommentiert dann die Rhabarberfäden, die dem Mädchen aus dem Mund hängen: "Jetzt hängan die Spaghetti aus der Goschn ausse." Kampuschs Antwort: "Nein, wir essen doch so selten Spaghetti."

Priklopils Leiche wurde am 23. August 2006 auf S-Bahn-Gleisen in Wien-Leopoldstadt entdeckt. Obwohl die Akten den Suizid bestätigen, erstattete Karl Kröll, der Bruder eines früheren Ermittlers, erst im Februar Anzeige gegen unbekannt wegen Mordes an Wolfgang Priklopil. (mcmt, APA, 21.3.2016)