Die rasant steigenden Bevölkerungszahlen und die damit einhergehenden Verpflichtungen waren im mehrwöchigen Wahlkampf um das Präsidentenamt im Niger kein Thema.

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Niamey/Cotonou – Wer viele Kinder hat, hat viele arme Menschen, wird gerne im westafrikanischen Niger gesagt. Arme bedeuten dort aber: viele Arbeitskräfte, die auf den Feldern mithelfen, auf jüngere Geschwister aufpassen oder am Straßenrand Telefonkarten, abgepacktes Trinkwasser oder Datteln verkaufen. Es ist ein Grund, weshalb der Sahel-Staat Spitzenreiter in Sachen Geburtenrate ist. Jede Frau bringt im Schnitt 7,6 Kinder auf die Welt. In Städten wie Niamey, Zinder und Maradi liegt diese zwar etwas niedriger. Auf dem Land, wo 80 Prozent der Bevölkerung leben, können es aber auch acht bis neun Kinder sein.

"2012 gab es einen Zensus, der festgestellt hat: Das Land wächst jährlich um 3,9 Prozent und gehört damit zu jenen, die weltweit am stärksten wachsen. Gleichzeitig ist es Schlusslicht im Entwicklungsindex der Vereinten Nationen", fasst Hassane Boukar die Entwicklung zusammen. Er ist Mitglied im Journalistennetzwerk Alternative Espaces Citoyens und versucht so nüchtern wie möglich zu klingen. Dabei bergen die Zahlen jede Menge Sprengstoff.

Denn außer der Bevölkerung wächst so gut wie nichts in dem Land, in dem noch vor 49 Jahren 3,5 Millionen Menschen lebten. Heute sind es zwischen gut 18 und 20 Millionen, Tendenz: rasant steigend. Nur etwa jeder fünfte Erwachsene kann lesen und schreiben. Laut einer neuen Studie der Europäischen Union ist jedes zweite Kind im Land stark von Unterernährung betroffen. Auf fruchtbaren Böden werden immer häufiger Häuser errichtet. In ländlichen Regionen gilt die Krankenversorgung als katastrophal. "In diese Bereiche müsste der Staat investieren. Doch er ist weit davon entfernt", kritisiert Boukar.

Religiöse Komponente

Diskussionen darüber sind allerdings verpönt und waren selbst im mehrwöchigen Wahlkampf um das Präsidentenamt kein Thema. Doch es geht auch um eine traditionelle sowie religiöse Komponente. Mehr als 80 Prozent der Einwohner bekennen sich zum Islam, und Familienplanung gilt bei einigen Vertretern als Angriff auf die Religion. Hinweise darauf, dass in anderen muslimischen Staaten Geburtenkontrolle längst eine Selbstverständlichkeit ist, werden gerne mit einer unwirschen Handbewegung abgetan.

Hamsatou Abani, medizinisch-technische Assistentin, kennt all diese Diskussionen und lächelt. Sie leitet die Stadtteilklinik Banifandou, die wie eine gynäkologische Praxis funktioniert. "Leider fehlt uns das Geld, um den Kreißsaal auszustatten. Dann könnten wir auch Entbindungen anbieten", sagt sie beim Rundgang und zeigt die leeren Räume. Trotzdem ist die Klinik beliebt, und die schmalen Holzwartebänke sind bis auf den letzten Platz besetzt.

Erholung für die Frau

Abani ist Muslima, trägt ihr Kopftuch mit so großer Selbstverständlichkeit, wie sie ihr Verhütungsset präsentiert. Kondome, die Antibabypille, eine Spirale oder ein hormonelles Verhütungsstäbchen. Sie und die sechs Hebammen haben alles im Angebot und bieten täglich Aufklärungsgespräche an. "Gerade im Gesundheitsbereich spielen Frauen in unserer Gesellschaft die entscheidende Rolle", erklärt Abani.

Genau darauf setzen sie und ihre Mitarbeiterinnen. Statt zu sagen: Habt nur drei oder vier Kinder, heißt es: Zwischen den Schwangerschaften muss sich die Frau erholen und genügend Kraft für das Neugeborene haben. "Sogar der Koran fordert uns dazu auf, dass wir uns um die Frau und deren Gesundheit kümmern." Damit rückt die nächste Schwangerschaft zeitlich nach hinten und ist eine wirkungsvolle Maßnahme gegen den Bevölkerungsboom.

Mentalitätswandel gewünscht

Allerdings funktioniert es in der Stadt, wo Verhütungsmethoden nach und nach bekannter werden und vor allem zugänglich sind – in ländlichen Regionen sind häufig schon die Wege zum nächsten Gesundheitszentrum, das Familienplanung anbietet, viel zu weit.

Hassane Boukar wünscht sich deshalb, dass in seinem Heimatland endlich ein Mentalitätswandel einsetzt. "Wir haben Eliten, die sagen: Schaut euch doch China oder Indien an. Dort geht es doch auch." Eine fatale Einstellung, wie er findet: "Die Entwicklung kommt dem Bevölkerungswachstum nicht hinterher." (Katrin Gänsler, 22.3.2016)