Sichtlich gezeichnet von den Ereignissen verlässt ein Mann das Flughafengebäude von Brüssel-Zaventem nach den beiden Explosionen Dienstagfrüh.

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Magnus Ranstorp forscht in der schwedischen Haupstadt Stockholm zu Extremismus.

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STANDARD: Haben die Verhaftungen in Brüssel in den vergangenen Tagen die Anschläge ausgelöst?

Magnus Ranstorp: Es gibt einen starken Verdacht, dass die Festnahmen der Grund für den Zeitpunkt sein könnten. Die Bomben, die man gefunden hat, sind aber so groß, dass man sie nicht in drei Tagen bauen hätte können. Vielleicht waren sie für andere Attacken vorbereitet.

STANDARD: Am Montag verkündete Belgiens Innenminister Jan Jambon, dass das Land in "höchster Alarmbereitschaft" sei und mit Vergeltungsschlägen rechne. Wie konnte solch eine Attacke gelingen?

Ranstorp: Ich bin schon öfter über den Flughafen Zaventem gereist, man kann sich sehr einfach Zugang verschaffen. Es gibt verschiedene Eingänge und sehr wenig sichtbare Sicherheitsmaßnahmen. Man gelangt von den Zügen in den Check-in-Bereich ohne Kontrolle. Die belgischen Behörden hätten die Sicherheitsmaßnahmen verstärken können. Natürlich ist es aber schwer, bei der großen Menschenanzahl zu entscheiden, wen man genauer unter die Lupe nimmt.

STANDARD: Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière sprach davon, dass es sich nicht nur um einen Anschlag auf Belgien handelt. Sehen Sie das ähnlich?

Ranstorp: Vor allem die Länder, die sich an der Koalition gegen den "Islamischen Staat" beteiligt haben, sind potenzielle Ziele des Terrornetzwerks. Ich würde davon ausgehen, dass es wieder ein Anschlag gegen die westliche Welt, die Freiheit und die demokratischen Werte gewesen ist.

STANDARD: Was wäre die Antwort, die Europa geben muss?

Ranstorp: Im Moment konzentriert sich das Vorgehen Europas vor allem auf die Polizeiarbeit nach solchen Attacken. Das alleine wird aber nicht zielführend sein. Es muss vielmehr eine Kombination aus polizeilichem Vorgehen und Präventionsarbeit auf einer lokalen Ebene sein. Wenn ein junger Mensch bereits einen Anschlag plant, ist es eigentlich zu spät. Die Behörden müssen verhindern, dass sich die Leute überhaupt radikalisieren. Es gibt sicher keine einfache Antwort auf diese Frage.

STANDARD: Warum ist vor allem Brüssel die europäische Hauptstadt des Jihadismus, von wo aus die meisten IS-Kämpfer nach Syrien reisen?

Ranstorp: In Brüssel gibt es viele wirtschaftlich isolierte Stadtviertel. Bei den Jugendlichen, die sich radikalisieren, handelt es sich meistens um Migranten der zweiten und dritten Generation, die keine Zukunftsaussichten haben. Dafür machen sie unter anderem den Staat verantwortlich und sind somit empfänglich für die Rekrutierer des IS. Die belgische Hauptstadt ist außerdem eine Drehscheibe für organisiertes Verbrechen. Das macht es einfacher, an Waffen zu gelangen. Und drittens erleichtert es das föderalistische Belgien, das sogar die Polizeieinheiten teilt, den Terroristen unterzutauchen. Der Austausch zwischen den Behörden ist behäbiger als in anderen europäischen Ländern.

STANDARD: Was wollen die Terroristen mit diesen Attacken erreichen?

Ranstorp: Natürlich wollen sie auf der einen Seite Angst verbreiten. Auf der anderen Seite erzwingen sie eine Reaktion des Staates. Entweder er reagiert zu schwach, dann haben sie die staatlichen Strukturen geschwächt, oder er reagiert über und erhöht die Sicherheitsbestimmungen, was wiederum mehr Unterdrückung bedeutet. Dadurch werden Randgruppen weiter isoliert und die radikalen Gruppen haben es leichter, Leute zu rekrutieren.

STANDARD: Werden terroristische Anschläge zum Alltag in Europa?

Ranstorp: Bereits vor den Anschlägen in Paris hat es zig vereitelte Attentate in Europa gegeben. Allein im vergangenen Jahr wurden in Großbritannien sieben Anschläge verhindert. Terrorismus ist also bereits Alltag in Europa.

STANDARD: Muss Europa nun Angst haben?

Ranstorp: Die Europäer haben gelernt, mit Terror umzugehen, gegen ihn vorzugehen und sich nicht von ihm in die Knie zwingen zu lassen. Nun dürfen sie nicht ihre Prinzipien verlieren und müssen einen kühlen Kopf bewahren. Auch wenn das einfacher gesagt als getan ist.

STANDARD: Bereits bei den Pariser Anschlägen gab es den Verdacht, dass Terroristen unter den Flüchtlingen waren, die nach Europa reisen. Wie können die Staaten das verhindern, ohne ihre humanitären Pflichten zu vernachlässigen?

Ranstorp: Es gibt wenige Hinweise, dass der IS den Flüchtlingsstrom nutzt, um Terroristen nach Europa zu bringen. Und wenn, handelt es sich nur um Einzelfälle. Es wird immer so sein, dass sich Leute einschleichen. Wichtig ist aber, dass man mithilfe von guten Interviewtechniken herausfindet, ob es sich bei den Asylantragsstellern wirklich um Flüchtlinge handelt. Dafür muss man sich aber Zeit nehmen. (Bianca Blei, 23.3.2016)