Als ich zum ersten Mal in einem Gutachten las, dass der im Maßnahmenvollzug Untergebrachte keine "Compliance" zeige, wusste ich nicht, was das bedeutet, und musste es nachlesen. Im Duden fand ich "Willfährigkeit", und zwar abgeleitet aus dem Englischen "to comply", sich fügen, einwilligen. In der Medizin bedeutet Compliance ein Maß für die Dehnbarkeit von Körperstrukturen, wie etwa der Lunge. Tax-Compliance ist Steuerehrlichkeit, soziopsychologische Compliance ist eine Verhaltensänderung, und Cross Compliance ist die Bezeichnung eines Regelwerkes in der Agrarpolitik.

Christian Schäfer schreibt in seinem Buch über Patienten-Compliance, dass schon von Hippokrates die Übereinstimmung des Alltagsverhaltens mit dem nach dem medizinischen Wissensstand wünschenswerten Verhalten bei der Behandlung von Kranken als ein zu lösendes Problem erkannt wurde. Erst in den 1960er-Jahren wurde dies zum Gegenstand medizinischer und sozialwissenschaftlicher Forschung, und zwar ausgehend vom angelsächsischen Raum.

Der Begriff ist zweideutig. Zum einen bedeutet er Einverständnis zwischen Arzt und Patient über Verhalten und Therapie, zum anderen bezeichnet er ein Patientenverhalten, das autoritär vom Willen des Arztes bestimmt ist. Dieses Verständnis dominiert in der Literatur bis spät in die 1980er-Jahre. Erst in den letzten Jahren erfährt die früher geforderte Unterwerfung unter das Herrschaftswissen der Ärzte und Ärztinnen zunehmend Ablehnung, und es entwickelt sich langsam das Verständnis einer gleichberechtigten Partnerschaft.

Ein Insasse in einer Anstalt für "geistig abnorme Rechtsbrecher" weiß vermutlich auch nicht, was "mangelnde Compliance" bedeutet, das spielt aber keine Rolle, da er das Gutachten ohnehin nicht zu lesen bekommt, denn dieses ist nur für das Gericht bestimmt. Er könnte es zwar anfordern, doch dies ist so unüblich, dass es womöglich dazu führen würde, dass das Vorliegen von Paranoia querulans vermutet wird, was weitere Komplikationen nach sich ziehen würde. Somit hat er auch keine Möglichkeit, im Zuge seiner Anhörung, die mindestens alle zwei Jahre stattfinden muss, vor dem Gericht zu erklären, warum er die Behandlung nicht gutheißt. Dulden muss er sie ohnehin, ob er will oder nicht.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in einer richtungsweisenden Entscheidung vom 23. März 2011 (2BvR 882/09) ausgesprochen, dass nicht nur die Ausübung von physischer Gewalt Zwangsbehandlung bedeutet, sondern auch das Inaussichtstellen von Nachteilen, für den Fall, dass die Behandlung nicht geduldet wird. Das bloße Aufgeben des Protestes kann nicht ohne weiteres als Zustimmung gedeutet werden.

Physische Gewalt

In Österreich sieht man das anders. Hier gilt als Zwangsbehandlung nur die Anwendung von physischer Gewalt, also etwa wenn der Behandlungsunwillige bei der Verabreichung der Injektion festgehalten wird. Wenn der Betroffene die Tabletten einnimmt, weil ihm in Aussicht gestellt wird, dass er sonst nicht entlassen wird, dann tut er das "freiwillig".

Das deutsche Bundesverfassungsgericht räumt auch gleich mit der häufig anzutreffenden Verharmlosung von Nebenwirkungen auf: "Die Gabe von Neuroleptika gegen den Willen des Patienten stellt schließlich einen besonders schweren Grundrechtseingriff auch in Hinblick auf die nicht auszuschließende Möglichkeit schwerer, irreversibler und lebensbedrohlicher Nebenwirkungen dar ... Psychopharmaka sind zudem auf die Veränderung seelischer Abläufe gerichtet. Ihre Verabreichung gegen den natürlichen Willen des Betroffenen berührt daher, auch unabhängig davon, ob sie mit körperlichem Zwang durchgesetzt wird, in besonderem Maße den Kern der Persönlichkeit, der jedoch einen Bereich darstellt, in den Eingriffe absolut verboten sind."

Darüber hinaus führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass die grundrechtlich geschützte Freiheit auch die "Freiheit zur Krankheit" einschließe und dass es keine "Vernunfthoheit" staatlicher Organe gebe. (Katharina Rueprecht, 22.3.2016)