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Porträt eines Illusionslosen: Der Dichter und Arzt Anton Tschechow (1860-1904), Autor des Dramas "Drei Schwestern".


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Andrej: Der ältere Bruder der Drei Schwestern bildet das leere Zentrum eines Dramas, in dem Anton Tschechow die Frage nach dem vergeudeten Leben stellt. Seit elf Jahren sitzt die Sippe der Prosorows in einer unbedeutenden Gouvernementstadt in der russischen Provinz fest. Ein Jahr ist es her, dass der Vater, ein Brigadegeneral, gestorben ist. Andrej, vor der Zeit dick und untätig geworden, wird für seine künstlerische Ader gerühmt. Für Irina, die jüngste Schwester, fertigt er aus Anlass ihres Namenstags "einen schönen Bilderrahmen" an. Andrej schwitzt Blut und Wasser. Er stolpert in eine Ehe mit der ebenso dumpfen wie vitalen Natalja hinein, die ihm Hörner aufsetzt und die Schwägerinnen sukzessive aus dem Haus ekelt.

Duell: Wie von Bienen werden die drei Schwestern – Irina, Mascha und Olga – von den Angehörigen der Militärgarnison umschwärmt. Liebesverhältnisse werden entweder widerwillig angebahnt oder sind mit Rücksicht auf bürgerliche Konventionen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Als sich das Nesthäkchen Irina endlich zu einer Eheschließung mit dem von ihr ungeliebten Baron Tusenbach durchringt, wird dieser von einem zynischen Nebenbuhler über den Haufen geschossen. Das Thema des törichten Duells hat den Dichter Anton Tschechow (1860-1904) seit jeher beschäftigt. Das letzte Wort behält der Quartalssäufer und Militärarzt Tschebutykin: "Der Baron ist ein guter Mensch, aber ein Baron mehr oder weniger, ist das nicht egal?"

Ethik: Den vielfach törichten Ansichten seiner Figuren widmet sich Tschechow mit der nüchternen Anteilnahme eines Chemikers. Im Gegensatz zu Leo Tolstoi, dem christlichen Lebensreformer, glaubt Tschechow, der praktizierende Mediziner, an keine nennenswerte Verbesserung der Lebensumstände in Russland. Dennoch bleibt der Mensch dazu verpflichtet, ein tätiges Leben im Dienst der Allgemeinheit zu führen. Seine Ethik ist bis in einzelne Wendungen hinein den Selbstbetrachtungen des römischen Stoikers Marc Aurel verpflichtet. Beider Credo lautet: "Der Mensch sündigt nicht allein durch seine Taten, sondern oft auch durch Tatenlosigkeit." Ein Vorläufer der Drei Schwestern, der absurde Provinz-Don-Juan Platonow, hat die Problematik am schlüssigsten auf den Punkt gebracht: "Warum leben wir nicht so, wie wir könnten?"

Irina: Die jüngste der Drei Schwestern hegt am vehementesten die müßige Illusion einer Rückkehr nach Moskau. Im ersten Akt zählt sie 20 Jahre. Mit jeder weiteren Station auf ihrem Lebensweg wird sie abgelebter und verhärmter. Dabei hat Tschechow sie zu Beginn mit dem größten Reformeifer ausgestattet: "Bei heißem Wetter hat man manchmal das starke Verlangen zu trinken, und genauso habe ich jetzt das starke Verlangen zu arbeiten." Sie weiß: "Es reicht nicht, ein Mensch zu sein, lieber ein Ochse, ein Ackergaul sein – nur arbeiten!"

Jalta: Seines 1897 diagnostizierten Tbc-Leidens wegen hielt sich Tschechow häufig in Jalta auf. Brieflich äußerte er sich wiederholt über die Fortschritte, die die Arbeit an den Drei Schwestern machte. Unüberhörbar bleibt die Lakonie: "Wenn es auch ein bisschen langweilig wird, es ist, glaube ich, trotzdem ganz gut, geistig." (Brief vom 20. Oktober 1900 an Olga Knipper)

Knipper: Die Schauspielerin Olga Knipper war Tschechows Ehefrau. Sie spielte in der Uraufführung des Dramas 1901 im Moskauer Künstlertheater die Rolle der mittleren Schwester, Mascha. Tschechow stieß mit seinem Text, einer Auftragsarbeit, auf Unverständnis bei den ausführenden Künstlern und nahm diverse Umarbeitungen vor. Wie immer stellte die heikle Balance zwischen komödiantischen und tragischen Elementen das Hauptproblem für den Dichter dar.

Philosophie: Ihre lähmende Untätigkeit verleitet die Figuren zu hochtrabenden Annahmen. Oberst Werschinin, der in aussichtsloser Leidenschaft zur Lehrersgattin Mascha entbrennt, versteigt sich sogar zu der Prognose, "in zwei-, dreihundert Jahren" würde "das Leben auf der Erde unvorstellbar schön sein ... wundervoll". Das Nachsehen haben nur leider die jetzt lebenden Generationen. Der Schönredner Werschinin erinnert in solchen Momenten an den Philosophen Ernst Bloch, den Lordsiegelbewahrer des utopischen Denkens.

Putt, putt, putt: Gelegentlich streifen die Salongespräche bei Prosorows das Feld des Absurden. Geradezu ein Vorbote des Nihilismus ist der merkwürdig verklemmte Stabshauptmann Soljony, der sich für einen Wiedergänger des Dichters Lermontow hält. Er pflegt seine Gesprächspartner nachzuäffen und besprüht seine Hände – die des potenziellen Gewalttäters? – unausgesetzt mit Parfüm. Er missgönnt dem Kameraden Tusenbach die bevorstehende Eheschließung mit Irina und streckt ihn nieder. Seine Mitmenschen martert Soljony mit höhnischen Bemerkungen: "Putt, putt, putt ..."

Zukunft: Es werde eine Zeit kommen, wissen die Schwestern, "in der die Menschen wissen, wozu das alles ist, wozu diese Leiden sind".

Zur Aufführung: In der Burgtheater-Premiere von Drei Schwestern (19.30 Uhr) am Donnerstag spielen u. a. Katharina Lorenz (Olga), Aenne Schwarz (Mascha) und Marie-Luise Stockinger (Irina). Philipp Hauß gibt den Andrej. Regie führt David Bösch. (Ronald Pohl, 24.3.2016)