STANDARD: Welche Erfahrungen haben Sie als Sozialarbeiter mit Islamisten gemacht?

Calluy: Die wichtigste Erfahrung war die mit dem späteren IS-Rekrutierer Fouad Belkacem, der anfing, die Jugendlichen zu radikalisieren. Er sprach sich unter anderem für die Todesstrafe für Homosexuelle aus und wollte Belgien in einen islamischen Staat umbauen. Er fing auch an, sich mit Leuten in anderen Städten zu vernetzen. Ich meldete das meinen Vorgesetzten, Medien, Politikern.

STANDARD: Wie waren die Reaktionen?

Calluy: Sie meinten, ich sehe Geister und dass das alles doch harmlos sei. Sie versuchten, mich zu beruhigen und zu bremsen. Als das nicht gelang, wurde ich Ende 2005 entlassen.

STANDARD: Wieso wollte man Sie bremsen?

Calluy: In der Verfassung ist der Schutz von Minderheiten festgeschrieben. Daran wollte man sich halten, um niemanden zu verärgern. Außerdem hat Belkacem die Jugendlichen von der Straße bekommen. Das fanden die Behörden und die Eltern gut. Tatsächlich war das aber der Ursprung der jetzigen islamistischen Gruppierungen in Belgien.

STANDARD: Wie ist es dazu gekommen?

Calluy: Ich bin mit der ersten Generation von Migranten aufgewachsen. Wenn sie etwas gemacht haben, was sie in Belgien nicht dürfen, haben wir ihnen das gesagt, und sie haben es verstanden. Nun gibt es die zahlreichen Gruppierungen, die ihnen einbläuen, was richtig sein soll, und damit an den Grundfesten des belgischen Staates rütteln.

STANDARD: Welche Chancen hat ein Jugendlicher in solchen Problemvierteln?

Calluy: Wenn du tatsächlich den Druck, den alle dort ausüben, aushältst, lernst du die Sprache, schließt die Schule ab, gehst auf die Uni und hast dann gute Chancen auf einen Job. Realistischer ist hingegen, dass du diesem Druck nachgibst, in Kontakt kommst mit dem radikalen Islam und Anschläge wie jetzt in Brüssel gutheißt. Du wirst keine Ausbildung und daher auch keinen Job haben, und in der Folge vielleicht kriminell werden. So war das bei den meisten Fällen, die ich gesehen habe. Und wenn man an Menschen wie Belkacem gelangt, der für den IS rekrutiert hat, kann man sich den Rest denken.

STANDARD: Was sollten die belgischen Behörden tun, um diese Problemviertel aufzulösen?

Calluy: Um in einer Situation wie jetzt ein klares Zeichen zu setzen, sollten sie wie in Frankreich eine strikte Trennung von Staat und Religion vornehmen, damit staatliche Förderungen an kirchliche Institutionen ein Ende haben. Damit werden Religionen natürlich nicht verschwinden, aber es wäre ein erstes Zeichen. Und dann sollte der Minderheitenschutz geändert werden. Der wird derzeit immer noch so interpretiert, dass alles, was mit dem Islam zu tun hat, nicht kritisiert werden darf. Das wäre mal ein Anfang. (Kim Son Hoang, 24.3.2016)