Am Donnerstag besuchte Belgiens Königspaar das Gasthuisberg-Spital, in dem die von den Metallteilen in den Nagelbomben schwer verletzten Terroropfer behandelt werden.

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Das öffentliche Leben läuft in Brüssel seit Donnerstag beinahe wieder normal. Auch auf der vierspurigen Einfallstraße Rue de la Loi, die an der EU-Kommission vorbei ins Zentrum führt, rollt der Verkehr. Die nach den Terroranschlägen am Dienstag verhängte Sperre wurde aufgehoben. Ein Polizeiauto blockt nur den linken Fahrstreifen ab, leitet Autos auf Höhe des Eingangs zur U-Bahn-Station Maelbeek vorbei.

Dort unten bei den Gleisen waren bei der Explosion viel mehr Tote zu beklagen als beim Anschlag in der Eingangshalle des Flughafens. Mindestens 20 Menschen starben, als Khalid El Bakraoui einen Sprengsatz zündete. Er könnte nach neuesten Erkenntnissen nicht allein gewesen sein.

Kameras filmten auf dem Bahnsteig einen Begleiter. Er trug eine große Tasche, vielleicht eine Bombe. Nach ihm wird gefahndet, Forensiker versuchen herauszufinden, ob er unter den Toten ist. Damit hätte es fünf Attentäter in zwei gut organisierten Kommandos gegeben – es gibt also starke Ähnlichkeiten mit den IS-Anschlägen in Paris im November.

Zwei Männer sprengten sich am Flughafen in die Luft: Ibrahim El Bakraoui (Khalids älterer Bruder) und Najim Laachroui, als Bombenbauer von Paris identifiziert. Ein Dritter, dessen Bombe nicht explodierte, flüchtete und wird gesucht. Immer wieder kommt es in der Stadt zu größeren Polizeirazzien, zuletzt zwei im Viertel Ixelles. Aber die Regierung nahm die höchste Terrorwarnstufe wieder zurück, von vier auf drei.

Die Bevölkerung reagiert auf die Ereignisse mit erstaunlicher Gelassenheit. "Man kann es nicht ändern, das Leben geht weiter", sagt eine Frau auf dem Platz La Chasse in Etterbeek. Sie sei wachsamer, aber Angst habe sie nicht, meint eine andere. An vielen Orten gibt es Gedenken an die Opfer. Am Samstag soll ein großer Trauerzug durch die Stadt stattfinden.

Dem Schrecken und den Berichten, wie präzise die Anschläge vorbereitet wurden, folgt nun immer stärkere Kritik an der Regierung und deren Sicherheitsbehörden. Es gibt Indizien für schwere Pannen bei der Jagd auf die Jihadisten, insbesondere was Ibrahim El Bakraoui betrifft.

Zu Mittag boten Innenminister Jan Jambon und Justizminister Koen Geens überraschend ihren Rücktritt an. Premier Charles Michel lehnte ab. Seine ohnehin schwierige Koalition aus Neu-Flämischer Allianz (N-VA) von Vizepremier Jambon, Christdemokraten (CD) und Liberalen (unter Parteichef Michel) könnte zerbrechen, wenn jetzt zwei Schlüsselminister abtreten.

Besonders unangenehm für alle drei sind Informationen der türkischen Regierung zu Ibrahim El Bakraoui. Der Mann ist wegen eines Überfalls, bei dem er mit einer Kalaschnikow auf Polizisten schoss, 2010 zu neun Jahren Haft verurteilt worden. 2014 wurde er auf Bewährung freigelassen. Er und sein Bruder sollen auch auf einer Watchlist der USA gestanden sein.

Im Sommer 2015 wollte die Justiz seinen Freigang überprüfen, da war er aber schon untergetaucht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan machte publik, dass der belgische Staatsbürger Bakraoui in der Türkei aufgehalten und abgeschoben worden war, weil er als terrorverdächtiger Syrien-Fahrer eingestuft worden war. Aber in Europa sei nichts geschehen. Am Donnerstag teilte Ankara mit, er sei gleich zweimal, im Juli und im August, ausgewiesen worden. Justizminister Geens räumte nun öffentlich ein, die betroffenen zwei Ministerien seien mit den Informationen "nicht schnell genug" gewesen.

Am Vortag hatte es nur geheißen, dass gegen den Mann in Zusammenhang mit IS-Terror nichts vorgelegen sei. Die Schlamperei begünstigt hat der Umstand, dass Bakraoui im Sommer nicht direkt nach Belgien, sondern in die Niederlande geflogen worden war.

Anschläge zu Ostern

Noch gravierender für die Regierung könnten Schwächen direkt vor den jüngsten Attentaten werden. Es mehren sich Hinweise, dass die Polizei nach der Verhaftung des Drahtziehers im Netzwerk der Jihadisten, Salah Abdeslam, am vergangenen Freitag Hinweise auf unmittelbar bevorstehende Anschläge hatte. Dennoch gab es am Wochenende keine konkrete Anschlagswarnung.

Abdeslam war in Paris beteiligt und gilt als Kopf der Brüsseler Bande. In Paris hatte der Staatsanwalt François Molins am Samstag öffentlich gemacht, Abdeslam sei im Verhör "kooperativ". Das flämische Staatsfernsehen berichtete, dass Abdeslam und zwei andere Terroristen mit Sturmgewehren ein noch größeres Blutbad anrichten wollten, ursprünglich aber erst nach Ostern. Wegen der Verhaftung Abdeslams sei der Anschlag vorgezogen worden.

Experten wie der US-Spezialist für TATP-Sprengstoff Jimmie Oxley gehen von langer Planung aus: Zur Herstellung dieser Bomben brauche es Wochen, sagte er Libre Belgique. Frederic Van Leeuw, der ermittelnde belgische Staatsanwalt, bestätigte, dass man "mehrere Personen" aus dem Umfeld von Abdeslam seit einer Woche intensiv gesucht habe. Und er zeigte sich unzufrieden damit, dass Details der Vernehmungen zu früh öffentlich wurden. Es sieht alles danach aus, dass die Polizei nah an den Attentätern dran war, aber zu spät kam. Bestärkt wird dies durch Berichte aus Israel, wonach amerikanische und israelische Geheimdienste konkret gewarnt hätten. (Thomas Mayer aus Brüssel, 24.3.2016)