Bis zum Fall des Kommunismus war Albanien der verschlossenste Staat Europas, in den 1990er-Jahren wahrscheinlich der gefährlichste. Heute ist der kleine Balkanstaat sicher, stabil und dank einer zunehmend guten Infrastruktur auch individuell leicht bereisbar. Es ist ein Land, das man noch rasch entdecken sollte, bevor es von Hotelentwicklern, Charterfliegern und Massentouristen entdeckt wird. Denn angesichts der Schönheit der Landschaft, der spannenden Kulturdenkmäler und der Freundlichkeit der Menschen kann das schnell geschehen.

Erstaunliche Vielfalt

Albanien lässt sich nicht leicht einordnen, trotz der Kleinheit des Landes ist seine Vielfalt erstaunlich; zwischen dem wilden Norden und dem urbaneren Süden, unwegsamen Gebirgsregionen im Hinterland und der teils dicht besiedelten Küste, stalinistischen Ruinen, dörflicher Rückständigkeit und neuen Glaspalästen. Da kann es passieren, dass sich eine Autobahn plötzlich in eine Schotterstraße verwandelt, dass zwischen Modernität und Mittelalter keine hundert Meter liegen. Muslime leben Tür an Tür mit Katholiken und Orthodoxen – und das in einem Land, das noch vor einer Generation per Dekret atheistisch war.

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Die Stadt Berat gehört zu den kulturellen Höhepunkten Albaniens und zum Unesco-Welterbe.

Wer Albanien von Nord nach Süd erforschen will, braucht mehrere Wochen. Wer dies nicht zur Verfügung hat, muss sich für einen Landesteil entscheiden. Für große Hochgebirgstouren abseits der Zivilisation fahren die meisten in organisierten Gruppen in die sogenannten albanischen Alpen ganz im Norden des Landes. Wer hingegen von allem, das Albanien bietet, ein wenig erleben will, der sollte eine Rundreise durch den Süden unternehmen und dabei 3000 Jahre Geschichte und Kultur mit idyllischen Wanderungen durch zahlreiche Nationalparks und Entspannung am Strand verbinden. Das geht am besten im Frühjahr und im Herbst, wenn in den Bergen kein Schnee mehr liegt und die Sommerhitze noch nicht eingesetzt hat.

Die kulturellen Höhepunkte des Landes sind die Unesco-Welterbestädte Berat und Gjirokastra sowie die griechisch-römischen Ruinen von Butrint. Dazwischen finden sich einige der schönsten Landschaften des Balkans, die am leichtesten mit dem Mietauto entdeckt werden können. Der Verkehr ist meist erträglich, die Autofahrer diszipliniert. Kein Wunder: Jeder zweite Wagen ist ein Mercedes, auf den die Besitzer gut aufpassen.

Günstige Hotels, köstliche Küche

Eineinhalb Stunden dauert der Flug von Wien zum Flughafen von Tirana, der den Namen der albanisch-stämmigen Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa trägt. Das vorbestellte Mietauto steht sogleich bereit, die Fahrt ins Stadtzentrum ist problemlos. Hotels sind im europäischen Vergleich günstig, genauso das großartige mediterrane Essen mit griechischen, türkischen und italienischen Einflüssen. Wer es sich leisten kann, checkt in Tirana im Rogner ein, seit 20 Jahren der Treffpunkt des albanischen Who-is-who.

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Blloku in der Hauptstadt Tirana ist mittlerweile zum Ausgehviertel avanciert.

Tirana selbst ist für ein oder zwei Tage gut, mit mehreren Museen rund um den zentralen Skanderbeg-Platz – das riesige Nationalmuseum und die Kunstgalerie mit ihrer Sammlung absurd-stalinistischer Gemälde –, einer pittoresken Moschee und einem schicken Ausgehviertel im Blloku, dem ehemaligen Ghetto der KP-Kader.

Tief in der Pëllumba-Höhle

Auf der Autofahrt nach Berat bietet sich bald ein Abstecher zur Pëllumba-Höhle an, die über eine einstündige Bergwanderung oberhalb eines stillen Flusstals erreicht wird. Die Karsthöhle ist stockdunkel und führt 360 Meter in die Tiefe.

Die alte osmanische Bürgerstadt Berat, die "Stadt der 1000 Fenster", bietet ein unverkennbares Bild: Wie auf einer Galerie reihen sich die Häuser von Hügeln hinab zum Osum-Fluss, überschattet von einer halb zerfallenen mittelalterlichen Burg. Am Fluss werden im Sommer Raftingtouren angeboten, in den Bergen rundum gibt es schöne Wanderungen.

Ausgrabungen hoch über dem Tal

Die interessanteren Bergtouren finden sich allerdings in der Region von Përmet, das auf direktem Weg nur mit Allradfahrzeug erreichbar ist. Normalreisende müssen einen langen Umweg nehmen, der die Chance für einen Besuch von Byllis bietet, einer jener illyrisch-griechischen Ausgrabungsstätten hoch über dem Tal.

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Eine osmanische Steinbrücke über dem Fluss Lengarica in der Nähe der Kleinstadt Përmet.

Die Kleinstadt Përmet hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum für Trekkingtouren und Rafting auf dem Fluss Vjosa entwickelt. Besonders schön ist etwa der mehrstündige Aufstieg zum Dhembeli-Pass auf 1500 Meter Seehöhe, von wo man in das noch abgelegenere Zagoria-Tal hinunterblicken kann. Dieses ist über mehrtägige Wanderungen erreichbar.

Glücklicher Zufall

Der Abstieg zurück nach Përmet bietet eine besondere Überraschung. Kurz vor dem Talboden liegt unterhalb eines Bergdorfes die Kreuzkuppelkirche Shën Mërisë aus dem 17. Jahrhundert. Der Bergführer, der selbst dort wohnt, holt den Schlüssel von einer Nachbarin und sperrt den Innenraum auf: Die Wände sind über und über mit farbenfrohen Fresken von Phantasiefiguren geschmückt. Durch Zufall hat dieses Kleinod die Zerstörungen unter dem Kommunismus überstanden.

Warme Quellen, eine alte osmanische Steinbrücke und ein Canyon, durch den man im Sommer weit in einen Nationalpark hineinwandern kann, sind weitere Attraktionen dieser Gegend.

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Die Altstadt von Gjirokastra liegt an einem Hügel. In der Stadt wurde Langzeitdiktator Enver Hoxha geboren.

Gjirokastra, das nächste Ziel, liegt ebenso wie Berat an einem Hügel im Schatten einer Burg. Die Straßen der Altstadt sind noch verwinkelter, die mehrstöckigen Wehrhäuser einst wohlhabender Familien – manche liebevoll renoviert, andere baufällig – besonders interessant. Das beste aber findet sich im Untergrund: In der Geburtsstadt des Langzeitdiktators Enver Hoxha wurde ein Stollensystem errichtet, in das sich die Parteiführung im Falle des stets erwarteten Krieges zurückgezogen hätte. In langen Tunneln sind dutzende schäbige Räume aufgereiht, die für die vielen Abteilungen von Stadtregierung und Partei bestimmt waren – ein bedrückendes Spiegelbild der unsäglichen Bürokratie dieser Zeit.

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Aus einer mindestens 50 Meter tiefen Karsthöhle sprudelt eine Quelle in einen Waldsee und färbt das Wasser türkisblau. Syri i Kaltër (Blaues Auge)_heißt die Touristenattraktion ganz im Süden Albaniens, die man auf dem Weg von Gjirokastra zu den Ausgrabungen in Butrint leicht besuchen kann.
Foto: picturedesk / John Warburton-Lee / Danita Delimont

Die Dreistundenfahrt von Gjirokastra nach Butrint lässt sich auf halbem Weg für einen Abstecher zur "Blaues Auge" genannten Karstquelle Syri i Kaltër unterbrechen. Zwischen Seerosen und Wasserpflanzen sprudelt ein intensiv türkisblaues Wasser an die Oberfläche eines Waldsees.

Butrint liegt auf einer entlegenen Halbinsel inmitten eines Nationalparks und beherbergt faszinierende Baudenkmäler aus mehr als 2000 Jahren, die Blütezeit hatte es dank seines kühleren Klimas als Sommerfrische für reiche Römer. Im Sommer wird es heute vor allem von Tagesgästen aus der in Sichtweite liegenden griechischen Insel Korfu überrannt; abseits der Hochsaison kann man zwischen den Ruinen stille Stunden verbringen.

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Butrint, ganz im Süden des Landes, weist Baudenkmäler aus mehr als 2000 Jahren auf.

Von dort führt eine lange Küstenstraße hinauf zur albanischen Riviera, wo im Sommer vor allem Einheimische und Auslandsalbaner die kleinen Orte bevölkern. Jede zweite Bucht bietet eine Kirche, eine Festung oder eine kleine Wanderung.

Hinter Dhërmi, dem bekanntesten Urlaubsort, windet sich die Straße steil auf den Llogarapass hinauf – ein Nationalpark mit rustikalen Hotels, von dem aus Bergtouren bis zu 2000 Meter Seehöhe führen. Aber auch kleinere Aufstiege bieten prachtvolle Ausblicke auf das Meer, die vorgelagerten griechischen Inseln und bei guter Sicht bis nach Italien. Dabei werden Erinnerungen an den Schulunterricht wach: Hier fanden im Jahr 48 v. Chr. wichtige Schlachten zwischen Cäsar und Pompeius statt.

In den Hafen von Apollonia

Nördlich des Passes wird die Landschaft wieder flach. Auf dem Weg nach Tirana gibt es noch eine höchst sehenswerte Ausgrabungsstätte: die einstige griechisch-römische Hafenstadt Apollonia, die besonders unter Zerstörungen durch Krieg und Diktatur im 20. Jahrhundert gelitten hat.

Die Wunden der Geschichte sind in Albanien überall zu spüren – auch in den Erzählungen der Menschen, die man kennenlernt. Doch gerade das macht das Land so liebenswert. (Eric Frey, 27.03.2016)