Für Hermann Toplak ist die Eindämmung von Diabetes nur als nationale Anstrengung denkbar. Nicht nur das Individuum ist für seine Krankheit verantwortlich, sondern auch die Gesellschaft.

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STANDARD: Sie sind als erster Präsident der Österreichischen Diabetes-Gesellschaft auch Präsident der Europäischen Adipositas-Gesellschaft. Ist es Zufall, oder ergänzen sich diese beiden Funktionen nicht ganz ideal?

Hermann Toplak: Es ergänzt sich tatsächlich. Zwar habe ich nicht gedacht, dass ich auf österreichischer und europäischer Ebene gewählt würde, durch die Vernetzung habe ich aber jetzt auch die Chance, etwas zu bewegen. Dazu kommt, dass beide Erkrankungen – Fettleibigkeit und Diabetes – sehr oft gemeinsam auftreten. Es gibt zwar auch Menschen, die mit der Adipositas ganz gut leben, aber früher oder später kommen die Probleme. Wenn es nicht Diabetes ist, entstehen durch die Adipositas Gelenksprobleme oder Depressionen und vieles mehr.

STANDARD: Im Jahr 1995 gab es, Schätzungen zufolge, 250.000 Diabetiker, heute fast dreimal so viele. Worauf ist diese dramatische Steigerung zurückzuführen?

Toplak: Die Ursachen für Diabetes sind seit Jahrzehnten klar und bekannt. Menschen in der westlichen Welt verbrauchen zu wenig Energie. Darauf kann man es reduzieren. Es ist nicht so, dass wir im Vergleich zu früher heute so viel mehr essen würden, viele Menschen essen sogar weniger als früher, nur sie machen ganz einfach viel zu wenig Bewegung.

STANDARD: Die WHO empfiehlt 10.000 Schritte pro Tag. Reicht das?

Toplak: Das ist etwa die Hälfte von dem, wofür der Mensch als Jäger und Sammler ursprünglich gebaut war. Unsere Vorfahren haben zwischen 15 und 17 Kilometer am Tag zu Fuß zurückgelegt. Wünschenswert wäre die halbe Auslastung dieses Potenzials. Davon sind die Österreicher und Österreicherinnen weit weg. Viele kommen überhaupt nur mehr auf 1000 Schritte, nur bei der Hälfte der Bevölkerung ist es ein bisschen mehr.

STANDARD: Reine Faulheit?

Toplak: Nein, man darf die Bewegungsarmut in modernen Industriegesellschaften nicht losgelöst von den vielen anderen Entwicklungen sehen, etwa der um sich greifenden Technisierung. Sie hat ebenfalls zur Folge, dass Menschen weniger Energie brauchen. Wenn überall Lifte und Rolltreppen für alte und behinderte Menschen gemacht werden, dann schaffen wir bis zu einem gewissen Ausmaß auch eine Situation, die das Potenzial hat, nichtbehinderten Menschen zu schaden. Sie benutzen die Rolltreppen auch und meiden das Stiegensteigen, das um so vieles gesünder wäre.

STANDARD: Ein urbanes Phänomen.

Toplak: Vor allem in Großstädten sehe ich eine Entwicklung, die ich als eine Art von Verdichtung beschreiben würde. Wir haben übervolle Terminkalender, hetzen von einem Treffen zum anderen, oft in überfüllten U-Bahnen zur Stoßzeit. Auf diese Weise schaffen wir manchmal 20 Termine hintereinander. Früher hat man an einem Tag ein oder zwei Sachen eintragen können, mehr war nicht schaffbar.

STANDARD: Verbraucht diese Art von Leben nicht auch Energie?

Toplak: Nein. Das ist Stress, genauer gesagt sogenannter Distress, der sich negativ auf den Körper auswirkt. Überlastung am Arbeitsplatz wird manchmal ja gar nicht so stark wahrgenommen. Aber wenn man schon wie ein Boxer in den Seilen hängt, will man sich wenigsten dafür belohnen. Für viele besteht die Belohnung dann erst recht wieder im Essen und Trinken. Diese Verhaltensmuster – also das harte nicht-körperliche Arbeiten und die Belohnung mit Kalorien – beginnt sich dann irgendwann einmal zu verselbstständigen.

Die steigenden Zahlen Diabeteskranker sind alarmierend. Ein treibender Faktor ist der westliche Lebensstil: Zu viel Zucker, zu viel Autofahren, immer weniger Bewegung. Die globale Übersicht zeigt, wie sich die Patientenzahlen von 2015 bis ins Jahr 2040 entwickeln könnten.
Grafik: DER STANDARD/Wolfram Leitner

STANDARD: Meinen Sie, dass man die Kontrolle verliert, ohne es zu bemerken?

Toplak: Ich bin davon überzeugt, dass Essen zu einer Art Sucht werden kann. Ich habe zusammen mit Otto Lesch von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Med-Uni Wien die Suchthilfe auf das Thema Ernährung aufmerksam gemacht. Vom Essen kann man wie vom Alkohol oder von Glücksspielen abhängig werden. Ganz konkret beobachte ich das an einem Phänomen, das ich als die Sucht nach Kohlenhydraten bezeichnen würde. Speziell jüngere Frauen sind davon betroffen. Teilweise nimmt das Verlangen nach Kohlenhydraten unglaubliche Ausmaße an. Wir nennen diesen Zustand Autonomisierung. Es ist ein Verlangen, das mit Schuldgefühlen einhergeht. Diese Kombination verursacht dann eine Frustration, die ihrerseits zu Essattacken führen kann. Daraus entsteht ein wirklicher Teufelskreis.

STANDARD: Gibt es weitere Ursachen für den starken Anstieg von Diabetes?

Toplak: Es ist sicher auch die Amerikanisierung unserer Gesellschaft. Der aus den USA kommende Trend, man soll gar nicht zu Fuß einkaufen gehen, sondern direkt mit dem Auto in den Supermarkt fahren. Möglichst wenig Bewegung machen, um möglichst viel einzukaufen: Das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Es gibt Ortschaften, in denen es früher einige kleine Geschäfte gab. Die sind verschwunden. Supermärkte liegen in Industriegebieten, da kommt man zu Fuß meist gar nicht hin. Mit solchen städtebaulichen Maßnahmen wird Alltagsbewegung vereitelt. Die Ursachen für den Anstieg von Diabetes sind durchaus komplex und gesamtgesellschaftlich zu sehen. Das Individuum allein ist sicherlich nicht dafür verantwortlich zu machen.

STANDARD: Es hätte aber doch jeder in der Hand, Bewegung in seinen Alltag einzubauen?

Toplak: Das sehe ich nicht so. Im Gegenteil. Es wird immer mehr zur Verantwortung der Gesellschaft. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, die es Menschen ein Stück weit wieder ermöglichen, Bewegung zu machen. Gesundheitsförderung sollte gesamtgesellschaftlich in Angriff genommen werden. Da hat Politik eine sehr große Verantwortung.

STANDARD: Inwiefern?

Toplak: Immer nur Profit und Wachstum zu fördern ohne Rücksicht darauf, wie sich das auf die Menschen auswirkt, kann extreme Kosten verursachen. Diabetes ist dafür ein Paradebeispiel. Die industrielle Nahrungsmittelerzeugung hat auch einen wichtigen Beitrag zum Übergewicht geleistet. Diabetiker verursachen durch ihre Erkrankung im steuerfinanzierten Gesundheitssystem höhere Kosten als Nichtdiabetiker. Und Übergewicht verursacht auch Kosten. 50 Prozent aller Frühpensionierungen haben ihre Ursachen in Gelenksleiden. Eindeutig auch eine Folge von Übergewicht. Frauen sind davon häufiger betroffen als Männer.

STANDARD: Welche Mittel gäbe es, hier gegenzusteuern?

Toplak: In Wahrheit geht es nicht um Diabetes, sondern darum, unseren Fokus auf die Vermeidung von Diabetes zu richten. Prävention ist das Schlüsselwort für eine Gesellschaft, die insgesamt gesünder wäre. Wenn den Menschen bewusst ist, dass Gewicht und Bewegung ganz entscheidende Gesundheitsfaktoren sind, wird es automatisch in Zukunft auch weniger Diabetiker geben. Eine gesunde Lebensführung beeinflusst auch die Blutfettwerte positiv, das wiederum wirkt sich günstig auf die Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch die Reduzierung der Schlaganfälle aus.

STANDARD: An der Irrationalität des menschlichen Naturells sind schon viele verzweifelt. Sie auch?

Toplak: Nein, deshalb führe ich auch den Kampf gegen das Rauchen weiter. Da bin ich unerschütterlich. Denn Nikotinmissbrauch ist nicht nur für Diabetiker, sondern für alle Österreicher mit erhöhten Cholesterinwerten wirklich ein extrem gefährliches Gesundheitsrisiko. Für einen jugendlichen Typ-1-Diabetiker, der Insulin spritzt, ist Rauchen für die Entwicklung der Spätfolgen wahrscheinlich der treibende Risikofaktor. Durch die verbesserten therapeutischen Einstellungsmöglichkeiten ist es sogar so, dass praktisch nur mehr Raucher die gefährlichen Spätfolgen von Diabetes entwickeln, also Amputationen notwendig werden, die Nierenfunktion leidet oder Menschen erblinden.

STANDARD: Apropos: Wie ist die medizinische Versorgung von Diabetes-Patienten in Österreich?

Toplak: Ich glaube, dass wir mit Stolz sagen können, dass grundsätzlich Staat und Hauptverband bereit sind, die modernsten Therapien zu bezahlen. Dafür gibt es bei allen Verantwortlichen die grundsätzliche Bereitschaft. Patienten in Österreich sind in dieser Hinsicht eindeutig besser dran als in Deutschland.

STANDARD: Was genau bedeutet eine moderne Diabetes-Therapie?

Toplak: In der Behandlung von Diabetes Typ 1 folgen wir klaren Standards, da sind wir sehr gut aufgestellt. 95 Prozent aller Diabetiker jedoch leiden an Diabetes Typ 2. Sie bekommen es irgendwann, und weil es nicht wehtut, wissen es viele erst, wenn die Folgeschäden manifest werden. Für die Behandlung dieser Gruppe ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer Wirkstoffe auf den Markt gekommen.

STANDARD: Für alle, die es nicht wissen: Welche Optionen gibt es bei Typ 2?

Toplak: Eine Gewichtsreduktion durch gesunde Ernährung und Bewegung ist die effektivste Art, Blutzuckerwerte zu senken. Wir haben aber eine ganze Reihe Substanzen, diesen Prozess zu unterstützen. Durch Tabletten, die Patienten einnehmen. Die neuen SGLT-2-Inhibitoren sind auch eine Option, sie bewirken, dass Zucker über die Nieren ausgeschieden wird.

STANDARD: Damit wird Diabetes Typ 2 behandelt?

Toplak: Genau. Das Spritzen von Insulin ist sozusagen die letzte Option. Die Industrie hat auch Substanzen entwickelt, die insulinähnlich sind und ebenfalls gespritzt werden. Auch eine Kombination aus Tabletten und Spritzen ist ein gangbarer Behandlungsweg. Es ist ein sehr spezialisiertes Feld, in dem es darum geht, eine für den Patienten optimale Lösung zu finden. Manchmal geht es aber ohne Insulininjektion nicht mehr.

STANDARD: Wie unterscheiden sich Insulinpräparate?

Toplak: Insuline werden immer länger wirksam. Bald wird es wahrscheinlich reichen, sie nur mehr einmal pro Woche zu injizieren. Das und die vielen neuen Systeme zur Blutzuckerkontrolle vereinfachen das Management der Krankheit massiv – für Patienten und ihre behandelnden Ärzte gleichermaßen. Sie bringen Sicherheit.

STANDARD: Was meinen Sie mit Sicherheit?

Toplak: Das Vermeiden von Über- und Unterzuckerung. Es gibt heute nicht nur sogenannte Pens mit Memoryfunktion, die exakt anzeigen, wie viel und wann ein Diabetiker zuletzt Insulin gespritzt hat. Es gibt darüber hinaus neue Systeme zur Blutzuckermessung, bei denen es nicht notwendig ist, sich bei jeder einzelnen Kontrolle zu stechen, sondern – wie beim System FreeStyle Libre – nur noch alle vierzehn Tage. Diabetiker haben einen Faden in der Haut, der mit einem Chip am Arm verbunden ist und kontinuierlich misst. Funktioniert hervorragend.

STANDARD: Implantierte Systeme?

Toplak: Die gibt es auch. Es sind sogenannte Closed-Loop-Systeme, die einen geschlossenen Kreislauf bilden. Die Messgeräte sind im oder am Körper angebracht, messen den Blutzucker und geben entsprechend der Messwerte die richtigen Mengen Insulin ab. Daran wird derzeit intensiv gearbeitet. Dazu kommen aber auch noch die zahlreichen Softwareprogramme und Apps, die Diabetiker in den täglichen Routinen unterstützen. Es passiert wirklich viel.

STANDARD: Wie steht es um die medizinische Betreuung von Diabetes?

Toplak: Bei der Versorgung von Diabetes bleiben immer noch viele Wünsche offen. Wir haben mit dem Disease-Managementprogramm "Therapie Aktiv" zwar theoretisch ein Programm, Diabetiker schulen zu können, aber in der Umsetzung gibt es Schwächen.

STANDARD: Welche Schwächen?

Toplak: Die Tatsache, dass Therapie-Aktiv-Ärzte schnell ans Limit hinsichtlich der Patientenzahlen kommen. Schulungen zu organisieren ist für viele Neuland. Und dann gibt es die vielen Diabetiker, die sich einfach nicht schulen lassen wollen. Aktuell sind nicht einmal zehn Prozent aller österreichischen Diabetiker in Therapie-Aktiv-Programmen.

STANDARD: Wo sehen Sie stattdessen die Zukunft?

Toplak: In der Versorgung durch Gruppenordinationen, weil dort Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenarbeiten und Diabetiker nicht von einem Arzt zum anderen geschickt werden. Die Behandlung von Diabetes braucht nicht nur viel Wissen und Erfahrung, sondern Fingerspitzengefühl, um eine gute Lösung zu finden.

STANDARD: Schwierig, vor allem im ländlichen Raum?

Toplak: Mein Credo: Jeder Österreicher soll, unabhängig von seinem Wohnort, die bestmögliche Versorgung bekommen. Wir werden uns also für die Zukunft Systeme einfallen lassen müssen, wie wir Menschen in abgelegenen Regionen gut versorgen können. Eine Möglichkeit wäre, Mitarbeiter aus spezialisierten Zentren zu Sprechstunden in die Regionen zu schicken. Davon profitieren Patienten. Diese Mitarbeiter könnten aber auch die behandelnden Ärzte vor Ort unterstützen, Wissen weitergeben, damit alle auf dem neuesten Stand der Medizin sind.

STANDARD: Sozial schwache Menschen leiden häufiger an Diabetes als gut Situierte. Warum?

Toplak: Ich habe früher als Jugendseelsorger gearbeitet, weiß, dass sich einfache Menschen nicht immer leichttun, über ihre Befindlichkeit zu sprechen. Solche Leute aus der Reserve zu locken wird zunehmend Aufgabe von Ärzten werden.

STANDARD: Sie haben sich unlängst auch für eine Zuckersteuer ausgesprochen. Gilt das noch?

Toplak: Versteckte Zucker sind ein Riesenproblem. Ein Packerl eines vermeintlich gesunden Molkegetränks enthält 50 Gramm Zucker. Das entspricht dem Kaloriengehalt einer Leberkässemmel. Macht aber nicht satt. Es geht darum, ein Bewusstsein zu schaffen. Eine Zuckersteuer setzt auf Herstellerseite an. Ich denke, Konsumenten brauchen dringend Unterstützung in der Orientierung, wenn es um Ernährung geht. (Peter P. Hopfinger, Cure, 7.4.2016)