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Stanisław Lem 1975 in seiner Wohnung in Krakau.

Foto: REUTERS/Aleksander Jalosinski

Der Golem, der das sich auf die Vernunft gründende Weltbild anzweifelt, trägt in der zweiten Silbe seinen Namen, Lem. Golem aber ist nur ein Computer, der sich im Jahr 2047 eingestehen muss, nicht zu wissen, was die Welt zusammenhält – eben die "unaufhebbare Rätselhaftigkeit dieser Welt", eine ebenso schlichte wie aufregende Erkenntnis, die dem Schöpfer dieses Computers, dem polnischen Schriftsteller, Philosophen und Futurologen Stanisław Lem, schon vor Jahren gekommen war.

Der kleine alte Mann, dessen Bücher in fast 40 Sprachen übersetzt sind, lebte bis zu seinem Tod vor zehn Jahren in einem stillen Vorort von Krakau, etwa 15 Autominuten vom Ufer der Weichsel entfernt, der Wisla, wie die Polen den Fluss nennen. Lems Arbeitszimmer war bis unter die Decke von Bücherregalen zugestellt. Auf einem stand eine alte mechanische Adler-Schreibmaschine, auf der schon Lems Vater geschrieben hatte und mit der Lem noch bis zuletzt arbeitete.

Als die Polen unter dem Kriegsrechtsregime des Generals Jaruzelski lebten, hatte Lem mit seiner Familie das Land vorübergehend verlassen und in Wien Zuflucht gefunden. Weltberühmt war der Autor von "Solaris", "Frieden auf Erden" und "Technologie und Ethik" damals schon. Er war nicht nur der erfolgreichste polnische Autor der Gegenwart, sondern auch der weltweit meistgelesene Science-Fiction-Schriftsteller.

Stanisław Lem empfing den Besucher in einem Lehnstuhl sitzend, am linken Ohr hatte er ein Hörgerät befestigt. Aber noch immer wirkte sein Gesicht bubenhaft, verschmitzt – und er konnte sich noch auf eine lustige Art aufregen, wenn er über all die Absurditäten sprach, die er im Alltag beobachtete. Da hatte er sich doch früher mit der Frage beschäftigt, wie unter dem Gewand einer "Globalistik" die Menschheit sich vor sich selbst retten könnte.

Großmeister der Science-Fiction

Anders als Francis Fukuyama hatte der Großmeister der Science-Fiction aber nie von einem Ende der Geschichte gesprochen. Später jedoch hielt er die weitverbreitete Fortschrittsgläubigkeit für Unsinn, für "obsolet", wie er sagte. Und Lem sprach da auch von seinen Ängsten, von der Gefahr eines atomaren Schlagabtauschs zwischen den nuklearen Schwellenmächten, von den Unsicherheiten, die in der russischen Politik liegen. "Das alles", resümierte Lem, "ist eine missliche Lage. Da gibt es keine Zeichen, wo man sagen könnte, es ließe sich ein Silberstreif am Horizont erkennen."

Dennoch: Ein Pessimist wollte er nicht sein. Zu Zeiten des sowjetischen "Protektorats" über Osteuropa sei die Situation doch sehr viel schlimmer gewesen. Das Unangenehme der heutigen Lage, meinte Lem, sei die Unübersichtlichkeit. Im Gegensatz zur Zeit vor 1989 könne man nicht mehr einigermaßen gesicherte Prognosen für die politische Entwicklung in einem überschaubaren Zeitraum abgeben. Lem zog hier einen Vergleich zur Klimadiskussion. Wenn man sich etwa ansehe, was in einem Land wie den Vereinigten Staaten durch Zyklone und ähnliche Klimakatastrophen angerichtet werde, müsse man schon zu dem Schluss gelangen, dass auch bei uns in Europa die allgemeine Lage "ziemlich misslich" sei. "Aber was kommen wird, ist unklar. Und das ist nicht besonders angenehm."

Lem machte bei diesen Worten einen fast in sich gekehrten, nachdenklichen Eindruck. Die Sicherheit, geradezu Selbstgewissheit, mit der er sich in früheren Jahren zu künftigen Entwicklungen geäußert hatte, war längst verschwunden. Er hatte sich erneut zu einem Zweifler entwickelt, der die Zweischneidigkeit des technologischen Fortschritts erkannte. Und da ließ er sich nicht mehr auf kurzfristige Voraussagen ein. "Das Einzige, was man sagen kann, ist Folgendes: die Entwicklung im Bereich der Wissenschaft, also etwa in der Biotechnologie oder in den elektronischen Netzwerken. Da besteht die Möglichkeit, langfristige Prognosen abzugeben, aber nicht auf dem Feld der Politik. Da weiß man gar nichts."

Gefahren des Internets

Seit 1986 schrieb Lem keine SF-Literatur mehr. Sehr früh warnte er vor den Gefahren des Internets. Es sei ein Netz, das nichts verstehe und mangels Kontrollinstanzen Mafia-Organisationen und Schwindlern die Tore öffne. Lem war sich ziemlich sicher, dass die Gefahren den Nutzen überwiegen. "Zum Beispiel die Tuareg oder die Araber in der Wüste: Was haben die von dem Internet? Rein gar nichts! Bei uns redet man von Handel und Kommerz, alles übers Internet – ich finde das überhaupt nicht anziehend. Wie kann man sich ein paar Schuhe übers Internet besorgen! Das ist mir unbegreiflich. Wenn ich sie nicht anprobieren kann ... Oder denken wir an Cyberspace im kybernetischen Raum. Das Großkapital pumpt ständig neue Waren in die Menschenmassen, und wir sollen uns daran gewöhnen, dass wir dies und das brauchen – das ist doch völlig unsinnig ..."

Lem hatte sich an dieser Stelle regelrecht in Rage geredet und schien den Besucher fast vergessen zu haben. Er grantelte, gab sich fortschrittlich und konservativ zugleich. Vor ein paar Jahrzehnten hatte er eine groteske Fabel über eine sprechende Waschmaschine geschrieben. An diese Geschichte erinnerte er sich jetzt wieder. Denn inzwischen gab es schon Waschmaschinen, denen man diverse Anordnungen geben konnte. Und so ging es weiter. Die "Beschleunigung der Veränderung" in der Technik – die machte ihm Angst, die war ihm mittlerweile unheimlich geworden. "Es gibt bei uns diesen großen Druck, dass wir unbedingt etwas Neues, immer das Neueste brauchen. Das ist die technosphärische Gesellschaft des einmaligen Gebrauchs. Man darf nicht reparieren, sondern muss alles sogleich auf die Müllhalde werfen."

Lem schwor da auf seinen 20 Jahre alten Mercedes – aber: "Es ist natürlich unwichtig, was mir gefällt und was nicht. Ich bin nur der Auffassung, wir bewegen uns in eine Richtung, die wir nicht genau kennen. Es ist noch schlimmer. Früher sagte man: Die Zukunft verändert sich sehr schnell, die Voraussagen ändern sich. Aber jetzt sagen wir: Die Vergangenheit verändert sich."

Am liebsten, sagte Lem, würde er auswandern. Aber wohin? Im Übrigen sei er dafür zu alt. Er halte sich für einen "Optissimisten", also einen Pessimisten mit einem Schuss Optimismus. Und trotz alledem: "Ich glaube, wir stehen nicht vor einem endgültigen Untergang des Abendlandes. Man wird sich irgendwie durchwursteln – aber mit Unbehagen und natürlich mit Scherereien, hoffentlich ohne Kriege." (Wolf Scheller, 29.3.2016)