"Sei schön charmant, denn er hat dich in der Hand."

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Angela Merkels Eintrag im Kondolenzbuch nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo". Was der Kanzlerin ihre Worte wert sind, zeigt sie mit ihrem Nichthandeln gegenüber Erdoğans Repressionspolitik.

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Am 8. Jänner 2015 schrieb Angela Merkel in das Kondolenzbuch für die Opfer des Terrorangriffs auf die französische Satirezeitung "Charlie Hebdo": "Gemeinsam wollen Deutschland und Frankreich unsere Werte der Freiheit und Demokratie verteidigen. Pressefreiheit ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Wir werden alles tun, sie zu schützen."

Diese schönen Worte sind jedoch nur eine leere Hülse, wenn ihnen nicht die entsprechenden Taten folgen. In der "Erdowie-Erdowo"-Affäre hätte die deutsche Bundeskanzlerin die Gelegenheit gehabt, den Beweis der Ernsthaftigkeit ihrer Worte zu erbringen und klar für die Pressefreiheit einzutreten.

Jetzt auch mit türkischen Untertiteln: "Ein Journalist, der was verfasst, das Erdoğan nicht passt, ist morgen schon im Knast."
extra 3

Nach der Ausstrahlung der Coverversion von Nenas "Irgendwie, irgendwo, irgendwann" in der NDR-Sendung "Extra 3" vom 17. März wurde Berlins Türkei-Botschafter Martin Erdmann am vergangenen Dienstag in Ankara zur Kopfwäsche einbestellt. Bei dem Termin wurde von dem deutschen Diplomaten die Löschung des Videos verlangt, ein beispielloses Vorgehen und ein klare Demonstration von Erdoğans Demokratieverständnis.

Doch nicht der letzte Post von "Extra 3".

Zwar meldeten sich in der Folge Vertreter der Regierungsparteien zu Wort, darunter der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen. Doch weder Angela Merkel noch Außenminister Frank-Walter Steinmeier erachteten es eine Woche lang für nötig, Erdoğans Regierung eine entsprechende Antwort zu geben. Erst Mittwochmittag ließ die Regierung von einer Sprecherin des Außenministeriums verlautbaren, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit seien "nicht verhandelbar".

Natürlich kann man die Auffassung vertreten, das trotzige Beleidigtsein Erdoğans sei des Aufhebens nicht wert. Doch mit ihrem Schweigen fällt die deutsche Regierung auch den Opfern der Repression in der Türkei in den Rücken. In Erdoğans Türkei ist eine freie Meinungsäußerung nicht möglich. Journalisten und Blogger werden mit Klagen zugedeckt, verhaftet und wegen "Präsidentenbeleidigung" vor Gericht gestellt.

Ende 2015 wurde der Arzt Bilgin Çiftçi gerichtlich verfolgt, weil er Erdogan mit Gollum aus "Herr der Ringe" verglichen hatte. Da der Richter die Filme jedoch nicht gesehen hatte, wurde der Prozess vertagt, um erst die Meinung von Gollum-Experten zu hören, ob es sich tatsächlich um eine Beleidigung handle. Im englischen Eintrag der Online-Enzyklopädie Wikipedia wurde in der Folge der Name des türkischen Präsidenten von einem Nutzer auf "Recep Gollum Erdoğan" geändert.

Doch weder die immer stärkere Verfolgung von Journalisten noch die Gewalt gegen Demonstranten oder das mörderische Vorgehen der türkischen Armee gegen die Kurden lösen in Berlin noch mehr aus als ein Schulterzucken. Zu groß ist offenbar die Angst davor, Erdoğan zu vergrämen, da der Türkei in Merkels Flüchtlingspolitik die Schlüsselrolle zukommt. Da werden die universellen Menschenrechte in der Sprachregelung der deutschen Regierung gerne einmal relativiert, wie von Innenminister Thomas de Maizière vor dem EU-Türkei-Gipfel zur Flüchtlingskrise Anfang März: "Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein". Merkel hat sich Ankara ausgeliefert, Erdoğan kann die Flüchtlingskrise offensichtlich nun benutzen, um Europa seine Politik zu diktieren.

Der Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit erfordert Mut. Merkel sollte diesen Mut aufbringen und sich an ihr in Paris gegebenes Versprechen erinnern. (Michael Vosatka, 30.3.2016)