Mama, können Fliegen bis in den Himmel fliegen?

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Früher haben Menschen sogenannte Bildungsromane gelesen, um sich das zu diesem Zeitpunkt vorhandene Wissen über die Welt anzueignen. Das Hineinpacken von Erkenntnissen in die mal mehr, mal weniger spannende Handlung eines Romans lässt sich beispielsweise in Thomas Manns "Zauberberg" nachvollziehen: Da lustwandelt man bei der Lektüre mit dem Protagonisten durch die Schweizer Wiesen und Wälder und lässt sich von einem anderen Kurgast die Welt, genauer gesagt ihre Kulturgeschichte, erklären. Manche Menschen haben früher auch gerne im Lexikon geblättert, um sich zu bilden, manche tun das sogar noch heute. Spätestens seit dem letzten Millionengewinn in der dazugehörigen Show wissen wir, dass dieses Vorgehen in manchen Lebenssituationen tatsächlich Sinn macht.

Wir Eltern haben aber meist nicht die Zeit (und vielleicht auch nicht die Lust), das umfangreiche Weltwissen kennenzulernen, sind eher selten Kandidatinnen oder Kandidaten in der "Millionenshow", und wir haben auch nicht alle das Durchhaltevermögen, den "Zauberberg" zu erklimmen. In der Realität hat Letzteres übrigens auch Frau Mann erledigt, denn sie war es, die mit ihren Briefen aus dem Schweizer Kuraufenthalt in Davos ihren Mann zu dessen Roman inspirierte.

Eltern sind wie Romane

Und dennoch: Wir Eltern sind wie wandelnde Lexika, wie moderne Bildungsromane. Ständig fragen und löchern uns unsere Kinder, weil sie alles, wirklich alles von uns wissen wollen. Ich versuche also mein Bestes, und in der Hälfte der Fälle funktionieren meine Erklärungsversuche sehr gut. Ich bastle aus Taschenlampen und Äpfeln Modelle des Sonnensystems und erkläre auf diese Weise, warum es in der Nacht dunkel wird.

Ich baue Sprungschanzen aus Papier und lasse Legomaxerln drüberplumpsen, weil ich die Geheimnisse der Erdanziehungskraft mit meinen Kindern ergründen will. Wir forschen gemeinsam an den Aggregatzuständen, indem wir literweise Wasser auf dem Herd verkochen lassen, damit der Dampf ausreichend sicht- und fühlbar wird für ihre Kinderaugen und -hände. Gemeinsam öffnen wir die Motorhaube unseres Autos und ich zeige auf die 5.278 Schläuche und rede von Verbrennung und Benzin. Oder so.

Wie weit Fliegen fliegen

Dann aber gibt es die Fragen, die Kinder auch stellen. Die wir Eltern nicht beantworten können, ohne uns vorher eingehend mit der komplexen Sachlage mittels eines fundierten Ratgebers vertraut gemacht zu haben. Dann entspinnen sich Dialoge wie dieser: Mama, können Fliegen bis in den Himmel fliegen? Ja, also nicht gar so weit, aber schon ein bisschen. Mama, wie weit ist "nicht gar so weit"? Ich weiß es nicht genau. Mama, bitte sag es mir. Bitte. Ich weiß nicht … BITTE!!! Also gut, hundert Meter hoch in den Himmel. Gut, Mama, wie hoch sind hundert Meter? Das ist so hoch wie fünfzehnmal das Haus, in dem wir wohnen. Mama, wie viel ist fünfzehn? So viele Finger. Mama, was sind eigentlich Hummeln? Sind das auch Fliegen? Und Mama, warum heißen Fliegen manchmal auch Fruchtfliegen? Können die auch hundert Meter hoch fliegen? Und Mama, können Hummeln Wespen essen? Oder Bienen? Mama, wie machen die das mit dem Bienenessen genau? Und Mama, meinst Du … ?

Gesprengte Wissensrahmen

Einzelne Spezialgebiete können Mütter und Väter vielleicht kraft ihres gewählten Berufs ohne vorhergehende Konsultation einer Suchmaschine abdecken. Die Fragen von Kindern sprengen allerdings meist den eigenen Wissensrahmen. Wenn man also dachte, man ist eigentlich relativ schon irgendwie gebildet und kennt sich ein bisschen mit Politik, Gesellschaft, Natur und Sport aus, dann stellt man spätestens mit einem vierjährigen Kind fest, dass man rein gar nichts von der Welt weiß.

Und dann gibt es noch jene Fragen, die niemand beantworten kann: Warum die Frau im Nachbarhaus so rote Haare hat wie die von einem Clown. Warum die Lehrerin in der Schule so einen großen Popo hat, der aus der Hose springen will. Warum die Schwimmtrainerin immer nur eine rosa Badehose anhat, obwohl sie doch eine blaue anziehen soll, weil das die viel schönere Farbe ist. Warum die Leute im Supermarkt alle Chips kaufen, nur wir dürfen das nicht, weil unsere ganze Familie an einer böse Chipsallergie leidet. Warum wir keinen Hund bekommen können, weil wir auf den auch allergisch sind. Und warum man beim Ikea die eigene kleine Schwester nicht gegen einen großen Bruder umtauschen kann. Ja, warum eigentlich, Mama? Warum? Sag es mir doch, Mama, bitte! BITTE!!! (Sanna Weisz, 3.4.2016)