Inge Winkel hat das Richtige gemacht, nämlich nichts. Nach dem Ende der DDR weigerte sie sich, die Grenzsicherung, dieses ganze fiese System an Aussperrung, Abschreckung und brutaler Gewalt wegzureißen. "Viele meinten nach der Wende: Nur weg mit diesen grauslichen Dingen, die wir dauernd vor der Nase hatten", sagt die heutige Oberbürgermeisterin von Sorge. "Aber ich habe mir gedacht, wir lassen diese Zeichen eines totalitären Systems stehen."

Und so ist bei dem kleinen Ort Sorge mit zu DDR-Zeiten 86 Einwohnern ein Freiland-Museum entstanden, mit der alten, originalen Grenzanlage. Wie selten entlang der insgesamt rund 1.400 Kilometer langen ehemaligen innerdeutschen Grenze ist da nichts behübscht, nichts multimedial aufbereitet, nur wenig mit Schautafeln erklärt. Hier ist die Grenze wie sie mal war – und da sieht man den ganzen Schrecken so richtig. Man erkennt, dass es nicht nur eine Mauer oder ein Zaun war, der die beiden deutschen Länder trennte, sondern eine ganze Anlage mit vielen brutalen Absicherungen, die bei vielen Menschen statt zur ersehnten Freiheit im Westen zum Tod im Osten führten.

Tiere mieden den Streifen

In den dichten Wäldern wurde ständig patrouilliert, meist mit scharfen Hunden. Zäune standen unter Strom. Es gab Minensperren, Fußangeln, Gewässersperren, Gruben. Diese Hürden waren gut getarnt, sodass man unbesehen hineintappte. Zumindest die Selbstschussanlagen mussten anlässlich der Schlussakte von Helsinki, dem völkerrechtlichen Vertrag zu Menschenrechten und Grenzen, ab 1975 abgebaut werden. Selbst Wildtiere mieden diesen Landstrich, erzählt Winkel, zu gefährlich war es hier.

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Brocken, der höchste Berg im Norden Deutschlands wird wegen der weiten Aussicht gerne besucht.
Foto: REUTERS/Thomas Peter

Heute ist der ehemalige Osten schmuck. In den Dörfern haben die Straßen noch altbekannte Namen von kommunistischen Denkern und Lenkern: Karl-Marx-Platz oder Ernst-Thälmannstraße. Viel ist passiert seit den 1990er-Jahren. Hohe Summen aus EU und BRD flossen, um das herabgewirtschaftete DDR-Grenzland aufzupäppeln. Vielleicht trügt der Schein, aber vielfach wirkt der Osten hier herausgeputzter als der Westen, wo großstrukturierte Landwirtschaft, Biogasanlagen und Windräder der Landschaft ihren Stempel aufdrücken.

Lautes Tütüt

Werningerode, eine Stadt in Sachsen-Anhalt, ist ein solches Beispiel für gelungene Revitalisierung. Auch zu DDR-Zeiten war die Stadt Vorzeigeobjekt, wurde gut in Schuss gehalten, sodass der Ort als eine riesige historische Fachwerksstadt durchgeht, mit den typischen, bunten Häusern und spitzen Giebeln. Am Marktplatz steht ein uriges Rathaus mit kleinen Fenstern und Spitztürmen. In dem Gassengewirr gibt es viele Restaurants und Kaffeehäuser – unter anderem ein putziges Café Wien. Überragt wird der Ort von Schloss Werningerode, das auch einen Besuch wert ist.

In der Mitte der Stadt steht ein Bahnhof für alte Dampfrösser, die mit lautem Tütüt durch die Gegend schnaufen. Es ist die Harzer Schmalspurbahn, die 1991 wiedereröffnet wurde und von der aus man in nicht ganz zwei Stunden auf den Brocken fahren kann. Natürlich kann man auch wandern, aber es ist doch ein steiler Aufstieg auf den 1.142 Meter hohen Berg. Das kann zwischen drei und fünf Stunden dauern.

Am einfachsten fährt man mit der Dampflok auf den Brocken hinauf.
Foto: APA/AFP/dpa/ANDREAS TUXA

Der Brocken ist die höchste Erhebung im Harz und die höchste in ganz Norddeutschland. Während DDR-Zeiten war der Berg für Normalbürger gesperrt. Zutritt hatten nur DDR-Staatssicherheitsdienst, Volkspolizei sowie sowjetische Soldaten, die von dort oben in Richtung Westen spionierten.

Steil geht es hinauf, manchmal nur im Schritttempo und das alte Dampfross plagt sich ziemlich. Zweimal muss gestoppt werden, "zum Wasser nehmen" der Lok, wie das genannt wird.

Weite Aussicht

Früher mal, also zu Vor-DDR-Zeiten waren Europas Dichter und Denker gerne hier: Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß, die Dichter Heinrich Heine und Johann Wolfgang Goethe, in seiner Funktion als weimarischer Bergbauminister. Sie bewunderten die Schönheit des Mischwaldes, die Pflanzenwelt des exponierten, oft zugigen Bergplateaus und die gute Aussicht. Ein Gebiet von der Größe der Schweiz kann man von hier aus überblicken, sagen die Fremdenverkehrsleute – wenn der Gipfel nicht gerade im Nebel liegt, was oft der Fall ist.

Diese weite Aussicht war es, weshalb vom Gipfel aus DDR-Spionage betrieben und, soweit es ging, "in den Westen hineingehört wurde". Bis zum Ärmelkanal konnte angeblich gelauscht werden. Heute kann man hier oben auch schlicht übernachten, im Brockenhotel, einem umgebauten Fernsehturm. Die meisten aber kommen herauf, um zu wandern. Die ehemaligen Ringmauer- und Kolonnenwege des Militärs dienen heute als Wanderwege. In der zu einem Museum umfunktionierten ehemaligen Abhörzentrale des Ministeriums für Staatssicherheit kann man sich über typische Slogans der Zeit – "Errungenschaften besitzen heißt, sie zu verteidigen" – informieren.

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Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß, die Dichter Heinrich Heine und Johann Wolfgang Goethe, in seiner Funktion als weimarischer Bergbauminister. Sie bewunderten die Schönheit des Mischwaldes, die Pflanzenwelt des exponierten, oft zugigen Bergplateaus und die gute Aussicht.
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Wie gnadenlos die DDR-Politiker mit ihrer Vereitelung von Fluchtversuchen gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung waren, lässt sich auch in dem kleinen Ort Hötensleben studieren. Der ganze Ort steht unter Denkmalschutz. Auch hier waren es engagierte Bewohner, die sich nach dem Mauerfall gegen einen Abriss wehrten. Der Ort lag direkt an der innerdeutschen Grenze; das Grenzgebiet wird noch heute so kahl, also überprüfbar, gehalten wie zu DDR-Zeiten. Die offene Landschaft als Sicht- und Schussfeld.

Blickkontakt war verboten

Aus den Fenstern besonders nahe zur Sperranlage gelegener Häuser konnte man direkt auf die Grenze blicken und dann und wann auf einen interessierten Bürger, wenn er seinerseits von West nach Ost guckte. Dann musste der DDR-Bürger die Vorhänge pflichtschuldigst zuziehen: Blickkontakt mit dem Westbürger war verboten.

Heute kann man in der Anlage herumwandern und sich auf Schautafeln mit dem kriegerischen Vokabular des DDR-Regimes vertraut machen: Spurensicherungsstreifen, Kolonnenweg, Signaldraht, Bewegungs- und Sichthindernis.

Am Abend dann bietet sich ein Besuch eines Wernigeroder Braugasthofes an, etwa, um das lokale Hasseröder-Bier und die rustikale Küche zu kosten. Da kann man leicht ins Gespräch mit Einheimischen kommen. Geschichten über das Schlepperwesen von damals machen die Runde. Wie sich die Einschätzungen ändern! Die Schlepperei war aus Sicht des Westens eine angesehene, gefährliche Tätigkeit.

In Helmstedt, einem hübschen, ehemals westdeutschen Grenzort hat man einen "Grenzlehrpfad" installiert. Dort wirkte ein junger Priester, der nächtens gerne durch die Wälder streifte und die immer kleineren Grenzlücken ausnutzte. Wenn er auf einen verirrten Ostdeutschen stieß, konnte er ihn dank seiner Kenntnisse der unübersichtlichen Bergwelt sicher ins gelobte Land lotsen.

Oder die Geschichte von dem Traktorfahrer, der eigentlich dazu da war, auf das Personal im Sperrgebiet aufzupassen. Als sich eine Gelegenheit bot, bog er einfach in Richtung Westdeutschland ab. Feindwärts, wie die DDR-Nomenklatura dies bezeichnete. (Johanna Ruzicka, 3.4.2016)