STANDARD: Vermehrt geschossen wird schon seit knapp zwei Jahren zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Wie ernst ist es aber dieses Mal?

Wöber: Aktuell sehen wir die größte Eskalation in diesem Konflikt seit dem offiziellen Ende der Kampfhandlungen 1994. Seitdem ist ein sogenannter selbstregulierender Waffenstillstand etabliert, ohne internationale Friedenstruppen und mit armenischen und aserbaidschanischen Soldaten, die mittlerweile hochgerüstet an der Grenze beider Länder und an der Frontlinie bei Bergkarabach einander gegenüberstehen. An beiden Schauplätzen gab es seit dem Sommer 2014 vermehrt Kampfhandlungen, was mit spezifischen innen- und geopolitischen Entwicklungen zu tun hat. In den vergangenen Tagen aber kamen wahrscheinlich mehr Menschen ums Leben – Zivilisten wie Soldaten – als in den ganzen letzten zwei Jahren. Es gab Medienberichten zufolge Gräueltaten und in jedem Fall die Verwendung von schwerem militärischem Gerät. Vor 2014 waren es Scharfschützen, heute sind es höchst zerstörerische Raketensysteme, die zum Einsatz kommen.

STANDARD: Auch politisch werden neue Töne angeschlagen.

Wöber: Das ist richtig. Eine Zuspitzung gibt es auch auf politischer Ebene. Armenien spricht von einer möglichen staatlichen Anerkennung Bergkarabachs, sollten die Kampfhandlungen andauern. Die Regierung in Eriwan bereitet Verträge vor, die eine rechtliche Grundlage für die militärische Unterstützung der Karabach-Armenier schaffen sollen, die selbst eine starke "Selbstverteidigungsarmee" haben. Aserbaidschan wiederum beruft sich auf internationales Recht, um seine besetzten Gebiete auch mit Gewalt befreien zu können. Die Nachbarländer haben sich ebenfalls zu Wort gemeldet: die Türkei, Georgien, wo es große armenische und aserbaidschanische Minderheiten gibt; und auch der Iran, wo im Norden angeblich bereits Raketen eingeschlagen sind.

STANDARD: Über eine Beilegung des Karabach-Konflikts wird schon seit 20 Jahren mit recht detaillierten Vorschlägen verhandelt. Warum kam es nie zu einer Einigung?

Wöber: Im Gegensatz zum Konflikt selbst muss man die Verhandlungen als eingefroren betrachten. Über die Jahre gab es die verschiedensten Ideen, auch jene eines Gebietstausches zum Beispiel. Aber beide Seiten haben einen unterschiedlichen Zugang: Armenien will zuerst die Frage des politischen Status von Karabach gelöst sehen; Aserbaidschan bevorzugt ein stufenweises Vorgehen, das mit dem Rückzug Armeniens aus den besetzten Gebieten beginnen soll. Von den Beteiligten wird jedenfalls ein Kompromiss verlangt, und darauf wurden die Bevölkerungen in den vergangenen Jahren nicht vorbereitet – eher im Gegenteil. Die Eliten beider Länder scheinen kein Interesse an einer raschen Änderung des Zustands zu haben. Was wir hingegen gesehen haben, ist eine zunehmende extreme Rhetorik und eine Polarisierung der Gesellschaften.

STANDARD: Würde Russland in dem Konflikt militärisch eingreifen?

Wöber: Wahrscheinlich nicht, solange sich die Kampfhandlungen auf die Karabach-Region beschränken. Tritt Russland aber in den Konflikt ein, wird auch die Türkei nicht ruhig bleiben, die Aserbaidschan unterstützt. Das würde bedeuten, dass sich der derzeitige Krieg im Nahen Osten auf den Kaukasus ausweitet. So weit sind wir noch nicht. Russland ist zusammen mit den USA und Frankreich Teil der Minsk-Gruppe und wohl der führende Akteur dieses Vermittlertrios, das sich um eine Beilegung des Karabach-Konflikts bemüht. In den vergangenen zwei Jahren war es Moskau, das die Kontrahenten stets beschwichtigen konnte.

STANDARD: Ist dieser Konflikt noch zu bremsen?

Wöber: Ich glaube schon. Wichtig ist, dass diplomatisch schnell etwas passiert. Dass es in Karabach heute wegen des Treffens der Minsk-Gruppe in Wien eine Vereinbarung über eine Waffenruhe gab, ist sicher ein gutes Zeichen. (Markus Bernath, 5.4.2016)