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Das Ehepaar Alain und Dafroza Gauthier bringt in Frankreich untergetauchte Täter vor Gericht.

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Die Gauthiers in ihrem Haus in Reims.

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Wenn Dafroza Gauthier das Gefängnis von Butare im Süden Ruandas betritt, fühlt sie sich schmutzig – ein Schmutz, der durch "kein Parfum der Welt, keine Dusche der Welt" wegzumachen ist. Hier sitzen wohl Leute ein, die ihre ganze Familie, ihre Mutter, fast alle ihre Freunde 1994 ermordet haben. Frau Gauthier ist Tutsi, aus Butare.

"Die überlebenden Opfer waren damals auf der Flucht, sie erinnern sich nicht gut an das, was passiert ist", sagt ihr Mann Alain Gauthier. "Es sind die Mörder, die wissen, wer noch dabei war."

In ruandischen Gefängnissen sitzen seit dem Genozid, der am 7. April 1994 in der Hauptstadt Kigali begann, etliche Täter ihre Strafen ab. Von Schnellgerichten, den sogenannten Gacacas, sind seit 2005 etwa 1,3 Millionen Menschen verurteilt worden. Viele verbüßen lange Haftstrafen.

Für das Ehepaar Gauthier, das seit Jahrzehnten in Frankreich lebt, sind Gefängnisinsassen wichtige Informationsquellen. Denn viele Täter von damals haben sich ins Ausland abgesetzt, wo sie ein bequemes Leben führen, eine große Zahl auch nach Frankreich. Die französische Staatsanwaltschaft war jahrelang säumig in ihrer Auffindung. Also wurden die Gauthiers selbst tätig.

Interviews mit den Mördern

Sie gründeten 2001 die NGO "Privatklägerkollektiv für Ruanda" (Collectif des Parties Civiles pour le Rwanda), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, untergetauchte mutmaßliche Täter aufzustöbern, Beweise gegen sie zu finden und sie vor ein Gericht zu bringen. Im Republikanischen Club erzählten sie vergangene Woche von ihrer Arbeit.

1996 reiste das Paar zum ersten Mal nach dem Genozid zurück nach Ruanda. Sie begannen, Interviews zu führen, die sie als Beweismaterial an Anwälte weitergaben. Bis 2001 wurden sechs Klagen gegen in Frankreich lebende Verdächtigen vorbereitet. Doch das war ihnen zu wenig und zu langsam. Etwa hundert würden unentdeckt in Frankreich leben, so Alain. Seit 1997 fliegen sie jeden Sommer nach Ruanda, um Beweise zu sammeln.

Wenn die Täter über die 100 Tage des Jahres 1994 reden, dann sei es so, als wären sie nicht dabei gewesen. "Sie würden verrückt werden, wenn sie sich ihre Taten eingestehen würden", sagt Dafroza. Ihr Mann fügt hinzu: "Eingeständnisse gehen, wenn, dann nur so weit wie nötig. Sie sagen: Ich habe niemanden umgebracht, ich habe nur die Hand abgehackt."

Zu 22 Personen konnten sie durch die mühselige Interviewarbeit Klagen vorbereiten, 2014 gab es die erste erstinstanzliche Verurteilung in Frankreich: Der ehemalige Geheimdienstchef Pascal Simbikangwa, bekannt als "Folterchef", wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er gilt als einer der Köpfe des Genozids. Vor Gericht meinte er, er habe nie eine Leiche gesehen. Vom Genozid habe er erst viel später aus Büchern erfahren.

Die Vorboten des Genozids und die Rolle Frankreichs

Die Chemikerin Dafroza ist zwar in Ruanda geboren, doch schon 1973 nach Belgien geflohen. Sie lebt mit ihrem Mann Alain, einem Schuldirektor, in Frankreich. Ein langer Machtkampf zwischen Tutsi und Hutu, der in das 19. Jahrhundert der Kolonialmächte zurückreicht, war schon lange von Gewalt begleitet. Seit 1990, als sich eine Tutsi-Gruppe aus dem ugandischen Exil zurück an die Macht streiten wollte, war es bereits zu etlichen Massakern gekommen. In dieser Zeit unterstützte Frankreich die Hutu.

Im März 1994 sah Dafroza ihre Familie zum letzten Mal. Sie ahnte, was passieren würde, und versuchte sie aus Ruanda zu holen, schaffte es aber nicht. Am 6. April wurde das Flugzeug des damaligen ruandischen Präsidenten, des Hutu Juvénal Habyarimana, abgeschossen – der Auslöser des Genozids. Erst vor wenigen Jahren wurde bekannt, dass der Abschuss wohl von Hutu-Seite selbst kam. Das Ereignis bedeutete den Start zu einem 100-tägigen Gemetzel. Und das vor den Augen der in Ruanda stationierten Uno-Truppen.

Während die Uno ihr Versagen in einem Bericht 1999 darlegte, warten Ruanda und auch französische Menschenrechtsorganisationen auf ähnliche Eingeständnisse Frankreichs. Das Land belieferte ab 1990 die Hutu mit Waffen und bildete Milizen aus.

Parallele Welten

Am 10. Mai beginnt in Paris der zweite Prozess, den die Gauthiers ermöglicht haben. Er behandelt den Fall zweier ehemaliger Bürgermeister. Etwa 200.000 Euro wird der Prozess kosten. Für die Organisation, die sich aus Spenden finanziert, eine Unsumme. Simbikangwa etwa ging in Berufung, im Oktober geht auch dieser Prozess weiter und wird weiter Geld verschlingen. "Es ist eine Arbeit, die nie endet", sagt Dafroza. "Manchmal frage ich mich, ob das das Leben nach dem Genozid sein kann. Doch welches denn sonst?"

Ihr Mann meint: "Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht über den Genozid sprechen, ihn spüren." Dafroza sagt, Genozid bedeute nicht bloß, Menschen zu töten. "Es wird alles zerstört. Häuser, Hunde, Katzen; Bäume entwurzelt, alles wird entwurzelt."

In Ruanda müssen Täter und Opfer nebeneinander leben, irgendwie. Es gibt dort diverse Versöhnungsprogramme, in Kigali kann man "Genocide Studies" studieren, und vor allem jetzt, in der offiziellen Trauerwoche vom 7. bis 14. April, gibt es Radiosendungen, Gedenkveranstaltungen – das ganze Land stehe still.

Dafroza denkt an die vergangene Woche zurück, in der sie wieder in Ruanda Interviews geführt hat. "Ich weiß, dass ich mit einem Menschen spreche, einem meiner ruandischen Brüder. Aber trotzdem sind es die Monster von damals. Man sieht zwei Welten, die parallel existieren. Eine Welt und eine Unwelt." (saw, 11.4.2016)