Wer kennt nicht das beliebte Gesellschaftsspiel "Activity"? Da sind die Mitspielerinnen und Mitspieler aufgerufen, Begriffe umschreibend zu erklären, sie zeichnerisch und pantomimisch darzustellen, spontan und ohne langes Überlegen, ohne Vorbereitung, also: aus dem Stegreif.
Das Kompositum Stegreif ist eine Zusammensetzung aus Steg und Reif (mittelhochdeutsch steg(e)reif, althochdeutsch stegareif, altenglisch stigerāp, neuenglisch stirrup "Steigbügel") und bezeichnete ursprünglich den vom Sattel hängenden Ring (= Reif), in den der Fuß beim Besteigen des Pferdes eingesetzt wird und wo er während des Reitens ruht.
Stegreif und Steigbügel
Steg(e)reif ist in zahlreichen mittelhochdeutschen Textstellen in der Bedeutung von "Steigbügel" belegt. Im 17. Jahrhundert fand der Übergang zu der heutigen idiomatischen Bedeutung statt: gänzlich unvorbereitet etwas zum Besten geben, etwas spontan auf die Beine stellen – wie ein Reiter, der sich nicht einmal die Zeit nimmt, vom Pferd abzusteigen, sondern mit dem Fuß noch im Steigbügel ist.
Die Tatsache, dass die Bezeichnung für den Steigbügel als Kompositum belegt ist, deutet darauf hin, dass der Gegenstand erst seit voralthochdeutscher Zeit existiert. Dafür sprechen auch Grabfunde aus der Völkerwanderungszeit (4. bis 6. Jahrhundert). In der Antike dürfte der Gegenstand nicht bekannt gewesen sein. Im Lateinischen wird zwar "stapes" mit der Bedeutung "Steigbügel" verzeichnet, das Nomen ist jedoch ein Lehnwort aus dem Germanischen und lässt sich zu "stapfen" und "Fußstapfen" stellen. Das Italienische übernimmt das germanische Lehnwort "staffa", jedoch lautverschoben (p zu ff).
Ein Gehörknöchelchen
Nun ist der Steigbügel (neuenglisch stapes) neben Hammer und Amboss auch eines der drei Gehörknöchelchen (lateinisch: Stapes, Umbo und Incus), die ganz wichtig sind für die Schallübertragung vom Trommelfell zum Innenohr.
Altenglisch rāp (in stigerāp) legt eine Seilschlinge (a looped rope) nahe, da rāp neuenglisch rope "Seil, Leine, Tau" entspricht. Der Bedeutungsumfang von mittelhochdeutsch reif reicht von "Seil, Strick, Band" hin zu "Fessel" und "Ring, Gebinde, Kreis". Daher nimmt es uns nicht wunder, wenn -reif und -reifen heute noch vielerlei Verwendung finden, zum Beispiel im Reifrock, als Armreif(en), Haarreif(en), Fassreifen, Hula-Hoop-Reifen und auch als Autoreifen.
Seiler und Reepschläger
Die Entsprechung von Reif lautet im Niederdeutschen Reep (germanisch ai erscheint altsächsisch als ē, und p hat die zweite Lautverschiebung nicht mitgemacht), ein altes Wort für Schiffstau. Die Strickleiter, die an der äußeren Bordwand eines Schiffes hinuntergelassen wird, damit Passagiere aus- und zusteigen können, heißt bekanntlich Fallreep.
Die Seilherstellung ist tausende Jahre alt. Seile und Stricke brauchte man in der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Schifffahrt. Seit dem 12. Jahrhundert gibt es Personennamen, die auf das Seilerhandwerk hindeuten. Im süddeutschen Sprachraum ist der Familienname Seiler (auch Sailer und Sailler) häufig. Die norddeutsche Entsprechung ist Reeper. Die Reepschläger brauchten für die Herstellung der Taue eine mindestens 300 Meter lange Bahn. Davon zeugt heute noch der Straßenname Reeperbahn, auch wenn heute der Kiez Hamburgs "Geile Meile" ist, und das rund um die Uhr, nicht nur nachts um halb eins, wie Hans Albers singt. (Sonja Winkler, 11.4.2016)