Zurzeit scheint es Österreich zweifach zu geben. Wer sich oft im Ausland aufhält, der wird mit dem positiven Bild eines Landes konfrontiert, das im letzten Jahr großzügig fremde Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten aufgenommen hat. Bei seiner Rückkehr sieht er sich mit dem Image einer hässlichen, unmenschlichen und engstirnigen Regierung gegenüber, die schändliche Grenzpfähle errichtet.
Empörungsrhetorik
Bei dieser Empörungs- und Schuldzuweisungsrhetorik geraten die verschiedenen Aspekte des Konflikts, die es in einer Demokratie gibt, durcheinander. Wenn der Papst Flüchtlingen die Füße wäscht, dann ist das eine sympathische moralische Geste, die an den ethischen Rahmen unserer Zivilgesellschaft gemahnt. Wenn Menschenrechtsgruppen die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention fordern, dann ist das juristisch und interessenpolitisch besehen nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht, und man möchte sich ein Durchgriffsrecht gegenüber all jenen Staaten wünschen, die diese Konvention unterschrieben haben und deren Durchsetzung torpedieren.
Demokratische Politik als die Kunst des Möglichen hat diese rechtlichen und ethischen Grundlagen in Rechnung zu stellen, freilich im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher, kultureller und politischer Gegebenheiten. Sie muss gestalten und die verschiedenen Konflikte moderieren. Nicht dass die Regierung auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise humanitär gehandelt hat, war falsch, und auch nicht, dass sie diese Ausnahmesituation nunmehr zu beenden trachtet. Sie hat beide Schritte indes schlecht moderiert. Das Land ist, wie alle anderen europäischen Länder auch, in der Frage der gegenwärtigen Migration und vor allem ihres Ausmaßes gespalten. Zwischen den Interessenlagen derer, die aus einem ganz anderen kulturellen Umfeld zu uns kommen, und jenen der Einheimischen muss im Sinne des "Zusammenhalts" ein Aushandlungsprozess stattfinden.
Übrigens demonstrieren die cleveren Wahlkampfmanager des grünen Präsidentschaftskandidaten Alexander Van der Bellen ihre politische Professionalität nicht zuletzt darin, wie sie auf die gegenwärtige Stimmungslage im Lande reagieren. Was die Kampagne plakatiert, sind keine freundlich lächelnden muslimischen Kopftuchträgerinnen, sondern ist schlicht – und ähnlich wie die Rechts-außen-Konkurrenz – die Botschaft: Heimat und Zusammenhalt. Nun ist diese Heimat nicht automatisch mit Dirndl und Dahoam ident und schließt die Einbeziehung der Fremden nicht automatisch aus. Aber unmissverständlich ist sie allenthalben.
Eine Konsequenz aus der gegenwärtigen politischen Gemengelange zwischen Fremdem und Eigenem möchten viele aus Van der Bellens Wählerschaft gerne vermeiden, die Einsicht nämlich, dass Grenzen und, damit verbunden, zeitweilige Schließungen unvermeidlich sind, wenn diese "Heimat" österreichisch und europäisch gestaltet und nicht Schleppern und illegalen Einwanderern überlassen werden soll. Es lässt sich darüber streiten, wie man diese Grenzschließung bewerkstelligt, europäisch oder nationalstaatlich.
Notwendige Grenzen
Jeder vernünftige Mensch wird zustimmen, dass dies möglichst humanitär zu geschehen hat. Das Ja der Öffnung und der Großzügigkeit ist ungemein sympathischer als das Nein der "kleinlichen" Abweisung; diese Gegenüberstellung wird der Komplexität des Problems indes nicht gerecht. Individuen, Gruppen, Kulturen und Staaten bedürfen der Grenzen. Ohne diese können sie das Leben in einer Gesellschaft eben nicht gestalten. So werden die EU und ihre Mitgliedsländer zu entscheiden haben, welche Form von Öffnung und Schließung, welchen Modus der legalen Migration sie – jenseits der verbindlichen Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention, die vermutlich nur eine Minderheit der Migranten betrifft – ermöglichen wollen. Das heißt zugleich, dass sie Menschen an ihren Grenzen werden abweisen müssen. Das ist nicht schön, aber die verbreitete rhetorische Floskel von der herzlosen Festung Europa ist angesichts der veränderten Bevölkerungszusammensetzung der reicheren Länder Europas seit 1989 längst absurd.
Politisches Kleingeld
Die gegenwärtige und zukünftige Migration von geschätzt dreihunderttausend Menschen stellt die wohl bisher größte Herausforderung für das Land seit 1945 dar. Sie wird dazu führen, dass die islamische Bevölkerung auf etwa zehn Prozent der Bevölkerung ansteigen wird. Im Erfolgsfall könnte deren Integration die Zivilgesellschaft stärken und zur Entstehung eines demokratischen Islam führen. Schon deshalb ist es wichtig, klarzumachen, dass die Menschen, die hier dauerhaft oder zeitweilig leben, willkommen sind und Hilfe zur Selbsthilfe benötigen. Unterschriften unter Wertekataloge oder die Einschränkung finanzieller Mittel sind keine politisch klugen Maßnahmen. Nur Kleingeld, das schnell ausgegeben ist.
Die Zuwanderung birgt indes auch Probleme. Unsere neuen Mitbürger sind einem Kontext entronnen, der in einem unübersehbaren Gegensatz zum gelebten Alltag und seinen Selbstverständlichkeiten hierzulande steht: jahrzehntelange Diktatur, Korrup-tion, Paternalismus, systematische Benachteiligung von Frauen in allen Lebenslagen, überkommene Ehrbegriffe, religiöse Apartheid, Kontrolle des Alltagslebens durch Familie und Religion. Im letzten Roman des syrisch-deutschen Autors Rafik Schami (Sophia) sagt eine arabisch-christliche Feministin, die vor der Rache ihrer Familie geflohen ist: "In den arabischen Ländern wird es keine Veränderung geben, solange nicht die Struktur der Sippe zerschlagen wird, die uns körperlich und geistig versklavt. Die Sippe baut auf Gehorsam und Loyalität auf und pfeift auf Demokratie, Freiheit und Würde des Menschen."
Kultureller Prozess
Die Transformation derart grundsätzlicher Strukturen ist ein langwieriger kultureller Prozess. Ob er gelingt, ist offen, neigen diasporische Gruppen doch generell dazu, an den alten Werten der verlorenen Heimat festzuhalten. Selbst wenn die Mehrheit der neuen Migration bei uns ankommt und die Integration in die "Heimat" gelingt, wird das Land weiter nach rechts gerückt sein. Sehnsucht nach Identität und wirtschaftliche Probleme haben sie beide, die Einheimischen wie die Menschen, die aus der Fremde in die Fremde kommen. (Wolfgang Müller-Funk, 8.4.2016)