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Kinder in Idomeni spielen mit Gummigeschoßen.

Foto: REUTERS / Alexandros Avramidis

Athen/Idomeni/Sofia – Nachdem bei Zusammenstößen an der griechisch-mazedonischen Grenze am Sonntag hunderte Flüchtlinge durch Tränengas und Gummigeschoße der mazedonischen Polizei verletzt worden sind, haben die Spannungen am Montag wieder zugenommen. Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen versammelten sich zahlreiche Flüchtlinge vor dem Grenzzaun zum Protest.

Vorerst sei die Situation aber "relativ ruhig". Auf Fotos in Sozialen Medien war zu sehen, wie Flüchtlinge mit deutschen und griechischen Fahnen in Richtung Stacheldrahtzaun zogen.

Ärzte ohne Grenzen hatte sich als einzige internationale NGO am Sonntag nicht aus dem improvisierten Lager zurückgezogen, nachdem die Situation eskaliert war und Hunderte den Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Mazedonien gestürmt hatten. Nach eigenen Angaben behandelte Ärzte ohne Grenzen 300 Verletzte, davon 200 durch Tränengas und 30 durch Gummigeschoße Verwundete. Darunter seien auch "30 Kinder im Alter zwischen fünf und 15 Jahre" sowie "drei Kinder mit Kopfverletzungen durch Gummigeschoße" gewesen, teile die Organisation am Montag mit.

Scharfe Kritik aus Griechenland

Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat den Umgang des Nachbarlands Mazedonien mit Flüchtlingen scharf kritisiert. Mazedonische Sicherheitskräfte seien am Sonntag in "schändlicher" Weise gegen die Flüchtlinge vorgegangen, sagte Tsipras am Montag. Die mazedonischen Beamten hätten "Tränengas und Gummigeschosse gegen Leute eingesetzt, die keine ernsthafte Bedrohung darstellten und unbewaffnet waren". Dieses Vorgehen sei eine "große Schande für die europäische Gesellschaft und ein Land, das Teil von ihr sein will", fügte Tsipras hinzu. Er erwarte "von den anderen Europäern und vom UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR, dass sie etwas sagen".

Auch der griechische Präsident Prokopis Pavlopoulos kritisierte das Vorgehen der mazedonischen Polizei. Die Vorfälle seien unvorstellbar und unzulässig. "Mit einem solchen Verhalten gegenüber Flüchtlingen hat das Nachbarland weder Platz in der EU noch in der Nato", sagte Pavlopoulos.

Die Kritik ist nicht neu, Griechenland und Mazedonien führen seit dessen Unabhängigkeit 1991 einen erbitterten Streit um den Staatsnamen, den Griechenland für seine gleichnamige nördliche Provinz beansprucht. Mit diesem Argument blockiert es den Nato-Beitritt Mazedoniens. Auch die Verhandlungen über einen EU-Beitritt werden von dem Namensstreit behindert. Der Staat führt deshalb offiziell den Namen "Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien".

"Jihadisten von morgen"

Der griechische Bürgerschutzminister Nikos Toskas warnt vor einer Radikalisierung wütender Menschen. Der Umgang der Behörden mit den Protestierenden in Idomeni müsse wohlüberlegt sein, denn islamische Extremisten könnten unter den verzweifelten Menschen Mitkämpfer rekrutieren. "Was Sie heute sehen, sind die Jihadisten von morgen", sagte Toskas am Montag auf Skai.

Der Bürgermeister der Region, Christos Goudenoudis, forderte die Evakuierung des Camps bis Ende des Monats. "Die Lage steht auf des Messers Schneide", sagte er am Montag.

Sanitäter: "98 Prozent sind absolut friedlich"

Laut dem Rotkreuz-Sanitäter Gottfried Staufer wurden die Menschen am Sonntag durch Lautsprecherdurchsagen auf Arabisch angetrieben. Immer wieder würden kleine Gruppen bewusst Falschinformationen verbreiten. Allgemein beschreibt Staufer die Stimmung in Idomeni als "sehr aufgeheizt". Allerdings seien nur Einzelne "sehr, sehr aggressiv", "98 Prozent sind absolut friedlich".

Die Ursache für die Eskalation sieht er auch in einer verfehlten offiziellen Informationspolitik: "Es gibt sehr, sehr wenig Information, und daher klammern sich die Menschen an alle möglichen Infos, auch wenn sie falsch sind." Viele Flüchtlinge und Migranten wüssten nicht einmal, was Asyl ist, und hätten keine Ahnung, an wen sie sich wenden könnten.

Ankünfte zurückgegangen

Die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei nach Griechenland kommen, hat drastisch abgenommen: Innerhalb von 24 Stunden hätten nur noch 18 Migranten übergesetzt, teilte am Montag der Stab für die Flüchtlingskrise in Athen mit. Am Vortag waren 162 und am Tag davor 120 Menschen vom türkischen Festland auf griechische Ägäis-Inseln übergesetzt.

Vergangenen Montag und am Freitag waren erstmals im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes jeweils 202 und 123 Migranten von den griechischen Inseln Lesbos und Chios in die Türkei zurückgeschickt worden. Weitere Rückführungen gab es zunächst nicht. Als Grund nannten die Behörden, es müssten nun Asylanträge bearbeitet werden.

Bulgarien schickt Soldaten an Grenze

Bulgarien wird indessen seinen Grenzschutz durch Soldaten verstärken, um zu verhindern, dass dort ein neuer Flüchtlingsweg nach Mitteleuropa entsteht. Nach einem entsprechenden Beschluss vom Montag sollen "300 Mann der bulgarischen Armee zusätzlich an die Grenzen verlegt werden", sagte Regierungschef Boiko Borissow nach Berichten bulgarischer Medien. "Sollte jemand die türkische oder griechische Grenze (illegal) passieren, wird er in Bulgarien festgehalten", sagte Borissow. Pro Tag seien es derzeit bis zu 100 Menschen. Überall an seiner insgesamt etwa 1.000 Kilometer langen Südgrenze Zäune errichten, könne Bulgarien nicht.

Bulgariens 270 Kilometer lange Grenze zur Türkei – eine EU-Außengrenze – wird seit 2014 an bestimmten Stellen durch Drahtzäune geschützt. Bis Ende Juni sollen diese Zäune auf insgesamt 160 Kilometer verlängert werden. Bulgarien erwägt auch einen Grenzzaun zu Griechenland, sollte es zu einem massiven Andrang von Flüchtlingen kommen. Dort waren nach einer Armeeübung im März 400 Soldaten stationiert worden, weitere 500 Mann könnten schnell dorthin verlegt werden. (APA, red, 11.4.2016)